1. Die handschriftliche Ueberlieferung. Bisher erhielt ich nur von acht Handschriften der uns hier beschäftigenden Denkwürdigkeiten Kunde. Dem Abdruck im 'Musée' liegt eine Abschrift zu Grunde, welche Abbé Laurent Bonnemant, ein um die Geschichte seiner Vaterstadt Arles wohlverdienter Forscher, gegen das Jahr 1772 anfertigte. Dieselbe ist uns in der Stadtbibliothek von Arles noch erhalten 1. In ihr ist der, wenn auch durch einige grobe Lesefehler entstellte, aber immerhin nicht ohne Fleiss besorgte Text durch manche werthvolle Anmerkungen bereichert, die sich jedoch fast ausschliesslich auf die Localgeschichte Arles' und die den Verfasser und seine Familie betreffenden Notizen beziehen. Bonnemant lagen für seine Abschrift (Bon. 2) zwei Handschriften vor. Die eine, welche ihm als eigentliche Vorlage diente (Bon. 1), bezeichnet er nicht näher. Wir sind also in betreff derselben auf die Untersuchung des Abdruckes (Mu.) angewiesen. Eine zweite Handschrift zog er allem Anscheine nach nur zur Vergleichung bei. Er bezeichnet dieselbe als die Handschrift der Trinitarier (Trin.), wie ich vermuthe, weil sie dem in Arles gelegenen Convente dieses Ordens angehörte oder entstammte. Wie wir aus Bouche 2 ersehen, war dieser Convent der bedeutendste der Stadt. Ein Insasse desselben, P. Porchier3, hinterliess handschriftlich eine umfangreiche Geschichte Arles'. Bonnemant theilt uns in den Noten mehrere Stellen aus der Handschrift mit und sagt uns, dass sie nur bis zum Februar des Jahres 1401 reichte. Wie ich bereits eingangs erwähnte, lag bereits Bouche 4 eine Handschrift vor (Arel. 1), welche er als 'Ms. Arelatense Bertrandi Boysseti' häufig anführt. Leider theilt er aus ihr nur eine Stelle, und zwar in lateinischer Uebersetzung, mit. In Arles befindet sich ausser der eben erwähnten Abschrift Bonnemants noch eine zweite, ganz moderne (Arel. 2). 1 Die wenig zahlreichen Handschriften waren zur Zeit meines Besuches (Herbst 1890) nicht etiquettirt. Wie mir Abbé Albanès, welcher eben ein Verzeichniss derselben im Auftrage des Unterrichtsministeriums zum Drucke bereitet, gütigst mittheilt, werden die beiden uns hier beschäftigenden Hss. annähernd die Nummern 226 und 228 erhalten. 3 Cod. 892 der Stadtbibliothek von Aix. 2 L. c. I, 313. 4 L. c. II, 430 bis 435. Zwei junge Handschriften finden sich in der städtischen Bibliothek in Aix, die eine aus dem vorigen (Aq. 1), die andere (Aq. 2) aus diesem Jahrhundert. Erstere wird in dem binnen kurzem erscheinenden Katalog dieser Handschriftensammlung mit n. 773, letztere mit n. 908 bezeichnet sein. Anfang und Ende beider entsprechen genau der Abschrift Bonnemants. Ungleich wichtiger als obige Handschriften ist jene, deren erste sichere Spur ich bei Baluze (1693) finde (Par.). An mehreren Stellen verweist er auf eine Handschrift der königlichen Bibliothek und theilt aus ihr zwei Angaben mit, welche er dem Garoscus de Ulmoisca Veteri zuschreibt. An einer dritten Stelle erwähnt er ein Itinerar der Romreise Gregors XI., das er Bertrand Boysset zutheilt. Doch wie in manchen anderen Fällen, in welchen er sich die weitere Verwerthung einer Handschrift vorbehält, gibt er die Signatur der Handschrift nicht an. So kam es, dass selbst Chabaneau 1 die für seine Studien so wichtige Handschrift als verloren bezeichnete. Es war, soviel ich sehe, der bekannte Romanist Paul Meier der erste, welcher für den verloren geglaubten Schatz auf cod. fr. 5728 der Nationalbibliothek von Paris hinwies und der Handschrift einige Tafeln für die Sammlung der 'Fac-similé à l'usage de l'École des Chartes, série héliographique' 2 entnahm. Die Handschrift verdiente diese Ehre, da sie das Autograph Boyssets selbst enthält, wie schon allein eine genauere Beschreibung derselben darthut. Ich verdanke es der Güte des Herrn Delisle und des Conte Gnoli, dass mir dieselbe zu erneuter Prüfung und zur genauern Besorgung der Correctur nach Rom zugesandt wurde, wofür ich den beiden Herren den schuldigen Dank abstatte. 1 Notes sur quelques mss. provençaux, perdus ou égarés, Paris 1885, p. 53 (ein Separatabdruck aus der Revue des Langues Romanes t. XXIII [1883], p. 127), und in seiner Uebersicht der provençalischen Literatur in DevicVaissete, Histoire de Languedoc 2 X, 350. Auch die Vermuthung, welche derselbe Autor in derselben Zeitschr. t. XXVII (1885), p. 46 ausspricht, das Itinerar des Garoscus bilde einen Theil einer provençalischen Chronik, wie dies bei Bertrand der Fall ist, hat sich bisher nicht bewahrheitet. 2 N. 311, ff. 42b und 43a der Handschrift mit der Datirung: '1402—3'. Die besagte Handschrift, 217 mm hoch und 142 mm breit, enthält 73 Papierblätter. Alle sind von Bertrands Hand mit lateinischen Zahlen numerirt; jedoch sind Bl. 70, 71, 72 leer, und Bl. 64, 65 und 66 fehlen. Bl. 16 findet sich zweimal, da nach Bl. 16' ein Bl. 16" zwischen die beiden ursprünglichen Fascikel von Bertrand selbst eingefügt wurde. Auf Bl. 1a ist mit Tinte ein grosser Vogel mit einem Menschenkopf gezeichnet. Bl. 1 und 2a sind leer. Auf Bl. 2 ist in ähnlicher Weise ein grosser Schwamm gezeichnet. Bl. 3 bis 8' enthalten das von Baluze mit dem Namen des Garoscus de Ulmoisca Veteri veröffentlichte Itinerar Urbans V. vom Jahre 1365 bis 1370. Bl. 8 bis 63 füllen die von Baluze dem Bertrand Boysset zugetheilten Denkwürdigkeiten für 1373 bis zum 9. Februar 1415. Das Ganze von Bl. 3a bis 63a wurde augenscheinlich von einer und derselben Hand geschrieben, allerdings zum grössten Theil in zwei Zügen; im ersten Zug von Bl. 3 bis 21, im zweiten von Bl. 21 bis 38. Doch ist zwischen beiden Theilen nur der Unterschied bemerkbar, welcher entsteht, wenn sich ein und derselbe Schreiber zu zwei verschiedenen Zeiten zum Schreiben niedersetzt und hierbei allenfalls Feder oder Tinte wechselt. Von Bl. 38 und noch viel augenscheinlicher von Bl. 42 an erfolgte die Niederschrift mit vielen Unterbrechungen, doch, wie gesagt, stets durch dieselbe Hand. Auf Bl. 63a steht noch oben zu Anfang der Seite von der Hand Bertrands: 'M IIII © XIIII'. Auf Bl. 63a bis 692 folgen noch einige Notizen von einer andern Hand aus den Jahren 1491 und 1492, zumal über Festlichkeiten zu Ehren der Reliquien des hl. Anton. Für die Untersuchung des gegenseitigen Verhältnisses dieser Handschriften muss uns der Text der Denkwürdigkeiten vorliegen, da auf ihn allenthalben verwiesen werden muss. Ich gebe daher hier nur kurz die Grundsätze an, nach welchen ich den Text mittheile, und lasse die Begründung derselben erst auf den Text selber folgen. Selbstverständlich lege ich meiner Ausgabe das Pariser Autograph Bertrands zu Grund. Zu der Vervollständigung derselben nutze ich jedoch die beiden Vorlagen Bonnemants (Bon. 1, Trin.), soweit dies möglich, vollständig aus, indem 1 Vita pap. Avenion. II, 768 f. 2 Doch springt die Zählung von Bl. 64 auf 68. ich alles, was dieselben der Pariser Redaction anfügen, in Cursivdruck in den Text einsetze und alle Abweichungen von einiger Bedeutung in den Anmerkungen verzeichne. Unberücksichtigt lasse ich nur die, wie wir sehen werden, ganz enormen Nachlässigkeitsfehler des Abdrucks im 'Musée'. Endlich werde ich von den Anmerkungen, mit welchen Bonnemant seine Abschrift bereicherte, die wirklich werthvollen, das heisst die auf die Familie und die Heimat Bertrands bezüglichen, aufnehmen und die geringwerthigen, die politische Geschichte betreffenden, durch Verweise auf glaubwürdigere Quellen ersetzen. Was sodann die Wiedergabe des handschriftlichen Textes angeht, so werde ich mich, da es sich um ein Autograph des Verfassers, also um ein charakteristisches Denkmal der Schreibweise einer gewissen Epoche, Gegend und Bildungsklasse handelt, da ferner fast der ganze Text im provençalischen Idiom abgefasst ist, in der Wiedergabe auch der grammatikalischen und orthographischen Eigenthümlichkeiten viel genauer an meine Vorlage halten, als dies sonst bei lateinischen Texten anderer Art, wenigstens in Deutschland, zu geschehen pflegt. Ich behalte also nicht nur in dem provençalischen Texte die Fehler und Sonderheiten Bertrands bei, welche uns für die Kenntniss des Arles eigenthümlichen Dialektes nützlich sind, sondern ich thue auch dasselbe, wenigstens theilweise, im lateinischen Texte. Auch in ihm behalte ich die für die dialektischen Tendenzen nicht uninteressanten orthographischen Fehler bei, verbessere dagegen die weniger bezeichnenden, aber für den Leser störenden grammatikalischen und verweise die fehlerhaften Formen in die Anmerkungen. Im Interesse der romanischen Philologie hat Chabaneau beim Abdruck einer von Bertrand abgeschriebenen gereimten Vita der hl. Maria Magdalena einige der Fehler und Eigenthümlichkeiten der aus Bertrands Feder geflossenen provençalischen Texte zusammengestellt1. Diese Arbeit fortzuführen liegt nach dem oben Gesagten ausserhalb der uns hier gezogenen Grenzen. Eine Sonderbarkeit Bertrands habe ich in meinem Abdruck 1 Revue des Langues Romanes f. XXVI (1884), pp. 105–133; die ‘Vita’ in t. XXV (1884), pp. 157–188 als Theil einer grössern Sammlung mit dem Titel: Sainte Marie Madeleine dans la littérature provençale. nicht wiedergegeben, um nicht die Drucklegung ohne entsprechenden Nutzen zu erschweren. In der Regel schliesst nämlich Bertrand die in seinem Texte vorkommenden Zahlen in zwei Punkte ein. Er schreibt also: 'L'an M.CCC. LXXVII, lo jorn XXIIII. de jenoier', ja selbst: I. palm solamens fondal'. Ferner dehnt er viel häufiger, als dies bei anderen Schreibern jener Zeit der Fall ist, die Anwendung dieser Punkte auch auf gewisse häufig wiederkehrende Abkürzungen aus; z. B. d.n.papa'. Mit voller Regelmässigkeit führt Bertrand allerdings diesen Gebrauch nicht durch. Immerhin bildet derselbe ein charakteristisches Kennzeichen der von Bertrand gefertigten Handschriften, obgleich ohne Zweifel eine beschränktere Anwendung dieser Punkte sich in vielen Handschriften jener Zeit findet. In der Pariser Handschrift sind um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts den einzelnen Abschnitten entsprechende Ueberschriften vorgesetzt worden. Solche scheinen sich auch in der Vorlage Bonnemants gefunden zu haben. Jedoch war die Formulirung dieser Ueberschriften in beiden Handschriften mehrfach eine verschiedene. Aus der Abschrift Bonnemants gingen diese Titel in den Abdruck im 'Musée' über. Obgleich dieselben die Uebersichtlichkeit des Textes erhöhen, so habe ich dennoch von der Wiedergabe derselben Abstand genommen, um die Chroniken genau in ihrer ursprünglichen Form wiederzugeben, da deren ursprünglicher Typus durch diese Einschiebungen bedeutend verwischt wird, was für einige unten zu erörternde Fragen nicht ohne Belang ist. Ich füge daher dieselben nur als Inhaltsverzeichniss am Schlusse an. Endlich hielt ich es für nützlich, zur grössern Uebersichtlichkeit wie alles von mir Ergänzte in Cursivdruck - die Jahreszahlen anzufügen. Was von der Hand des Verfassers am Rand steht, schliesse ich in eckige Klammern ein. 2. Der Inhalt des Pariser Autographs. 1365. F. 3o. L'an' Me tres sens LXV a quatre de juin fon monsen Karles segon enparador d'Alamanha en la sieutat d'Arle per eser coronat e fon coronat dereire l'autar de san Trofeme, e coronet 1 Dieser erste Theil bis S. 326, Z. 11 wird von manchen als die Chronik des Garoscus de Ulmoisca Veteri bezeichnet; über diese Frage vgl. unten n. 4. |