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Ueber das Wesen der Krisen in der Volks

wirthschaft.

Von

Gustav Cohn.

Vorgelegt in der Sitzung vom 31. Juli 1897.

I.

Der Fall, daß ein Wort im Laufe der Zeit einen anderen Inhalt erhält, als es ursprünglich besessen hat, ereignet sich oft im Leben der Sprache, und man vergißt dann wol seinen Ursprung. Aber daß ein solches Wort durch diese Veränderung nur zu desto größerer Unsicherheit seiner Bedeutung gelangt, ist störender für den Sprachgebrauch und vollends für die Wissenschaft, die sich auf denselben zu stützen hat.

Das Wort „Krisis" scheint in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als Bezeichnung für gewisse Störungen im Wirthschaftsleben in Gebrauch gekommen zu sein. So überschreibt Sismondi1) ein Kapitel seiner „neuen Principien der politischen Oekonomie": des crises qui changent le papier des banques en papiermonnaie.

Auch die Verbindung „crise commerciale" (Handelskrisis) scheint um jene Zeit in Frankreich und England üblich geworden zu sein 2).

1) Nouveaux principes d'Economie politique, Paris 1819, Tome II p. 119. livre V, chap. IX.

2) Rud. Hildebrand (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Fünfter Band 1873, s. v. Krise) führt eine Stelle aus Aug. Bürger's Gedichten an, wo sich „Krise" im Sinne von einer Geldkrise" findet („wofern ich nicht ohn allen Zeitverlust, zur Wendung der fatalen Krise, mich selbst an Ort und Stelle wiese"). Daß hier bereits ein Vorbild des Sprachgebrauches der Volkswirthschaft dem Dichter vorgeschwebt, ist zu bezweifeln; in seiner Privatwirthschaft sind solche Krisen allerdings chronisch gewesen. Und wenn Goethe (Wilhelm Meister's Lehrjahre, Werke 1828, Bd. 20, 142) sagt: „ ,Alle Uebergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit ?" so zerfließt

Kgl. Ges. d. Wiss. Nachrichten. Philolog.-histor. Klasse 1897. Hft. 3.

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Das Wort „Krisis" ist wol von der Terminologie der Mediciner entlehnt; indessen der Sinn dieser Uebertragung nicht ganz deutlich. Auch ist dies unerheblich; denn es ist gewiß, daß dadurch nichts geholfen ist für die schwankende Bedeutung, welche dem Worte in dem Leben der heutigen Volkswirthschaft beigelegt wird.

Die herkommliche Wortverbindung „Handelskrisis" ist zwar die üblichste, jedenfalls die früher am meisten gebrauchte; indessen daneben hat sich eine ganze Reihe ähnlicher Wortverbindungen gebildet, die heute gebraucht werden. Wir nennen hier nur: Börsenkrisis, Geldkrisis, Creditkrisis, Absatzkrisis, Produktionskrisis, landwirthschaftliche Krisis.

Schon diese Beispiele zeigen, daß mit dem Worte „Krisis" ein schwankender oder sehr allgemeiner Begriff verbunden wird1).

II.

Eine tiefer gehende Deutung der „Krisen" findet sich wol zuerst in dem kommunistischen Manifest", welches 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels veröffentlicht wurde.

für unsren Zweck die Bedeutung des Wortes ins Allgemeinste. Dem entspricht die Deutung Hildebrand's: „Die Entscheidung in einem Zustande, in dem Altes und Neues, Krankheit und Gesundheit und Aehnliches mit einander streiten". So vollends das Wort „kritisch" (nach Hildebrand) gleich „mißlich, schwierig, gefährlich, eigentlich zur Bezeichnung der Schwierigkeiten, Gefahren, Bangigkeiten, die eine solche Krisis mit sich bringt; doch das ursprüngliche Bild ist schon ziemlich vergessen, aber aus dem Gebrauche des politischen und groBen Geschichtslebens ist das Wort neu ins allgemeine Leben eingedrungen“.

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Es wäre noch festzustellen, wo der Ursprung des Sprachgebrauches liegt, der uns zunächst angeht, und welch verwandter Gebrauch, etwa für „politische Krisis" Verfassungskrisis", Ministerkrisis" vorangegangen ist oder gefolgt ist. Im Ganzen beweist dieser Fall wieder, wie erheblich der Sprachgebrauch des täglichen Lebens für die Wissenschaft ist und wie sehr ihr die Aufgabe zufällt, darin Ordnung zu schaffen, Die folgenden Betrachtungen sollen zeigen, welche Unklarheit des Begriffes durch den Sprachgebrauch in Gang gekommen und in die Wissenschaft aufgenommen worden ist (vgl. dagegen Heinrich Dietzel, Theoretische Socialökonomie 1895, 1, 154).

1) Aus der Literatur ist zu vergl. W. Lexis, Handel, Schönberg's Handbuch der polit. Oekonomie 3. Aufl. II, 882-884. H. Herkner, Art. Krisen, Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. 4 (1892) wo sich eine sehr ausführliche Sammlung der Literatur befindet. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. 1878, 236 ff. Karl Marx und Friedrich Engels, Das kommunistische Manifest. 1848. Léon Faucher, Etudes sur l'Angleterre. Paris 1845. tome I p. 443-478 („Les crises dans l'industrie").

In demselben heißt es:

„In den Handelskrisen wird ein großer Theil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre die Epidemie der Ueberproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnoth, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? weil sie zu viel Civilisation, zu viel Lebensmittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt".

Die Planlosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise wird hier angeklagt, um daraus die Nothwendigkeit einer planmäßigen Produktionsweise zu folgern, wie sie durch die socialistische Wirthschaftsordnung hergestellt wird.

Theils diese theoretische Deutung der „Handelskrisen" theils die sich fortsetzenden Erfahrungen während eines halben Jahrhunderts haben dazu geführt, daß man die Bezeichnung „Handelskrisis" mehr und mehr durch die andern Bezeichnungen „Absatzkrisis" oder „Produktionskrisis" ersetzte.

In England aber, dem typischen Versuchsfelde der neuen Volkswirthschaft und ihrer kapitalistischen Produktionsweise, ist gerade für diese Erscheinung ein anderes Wort üblich geworden „depression of trade" d. i. Depression des Wirthschaftslebens. Diese Bezeichnung findet sich schon 1842 in einem von der Statistical Society in London veröffentlichten Aufsatz von H. Ashworth über Statistics of the present depression of Trade at Bolton", sie ist neuerdings vollends in Aufnahme gekommen, so zumal als Ueberschrift für die Untersuchung der Königlichen Commission, welche 1885 1886 über „Depression of Trade and Industry" berieth 1).

Was war ihr Sinn?

Alle Mitglieder der Kommission stimmten darin überein und faßten damit die Ansichten aller Zeugenaussagen und schriftlichen Berichte zusammen, daß unter dem „gedrückten Zustande zu verstehen sei eine Verminderung, in einzelnen Fällen ein vollständiges

1) Vgl. Eugen von Philippovich, Besprechung der Berichte dieser Commission in Conrad's Jahrbüchern 1886. 1887 Bd. 46. 47. 48.

Fehlen der Gewinne, mit einer entsprechenden Verminderung in der Beschäftigung der arbeitenden Klassen.

Die gleiche Uehereinstimmung wurde darüber geäußert, daß weder der Umfang des Handels noch der Betrag des in demselben angelegten Kapitals sich wesentlich vermindert hatte, wenn auch das letztere in vielen Fällen in seinem Werthe zurückgegangen war.

Es wurde festgestellt, daß dieser gedrückte Zustand von Handel und Industrie ungefähr mit dem Jahre 1875 begonnen habe und mit Ausnahme einer kurzen Periode der Prosperität von 1880-83 für einzelne Gewerbe gleichmäßig in dem Umfange

und der Größe des Druckes damals (1886) noch andauerte.

Man war endlich einig darüber, daß der wirthschaftliche Druck sich am fühlbarsten mache in der Landwirthschaft und in den Bergwerksbetrieben, daß von der allgemeinen Gewinnlosigkeit der Unternehmungen nur die Detailhändler ausgenommen waren.

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Es ist nun wohl klar, daß ein also dargestellter Zustand des allgemeinen wirthschaftlichen Druckes von dem nur die Detailhändler verschont bleiben nicht als Handelskrisis" zu bezeichnen ist, ohne daß die Bezeichnung das Verständnis von dem Grunde der Erscheinung auf die Oberfläche ableitet, ja selbst an der Oberfläche nicht haften kann angesichts der Thatsache, daß die Lage der Landwirthschaft einen erheblichen Antheil an dem gedrückten Zustande der Volkswirthschaft hat.

Die in England übliche Bezeichnung ist jener andern daher vorzuziehen. Sie ist darum allerdings keineswegs eine besonders einschneidende oder lehrreiche.

III.

Es werden dabei nämlich - gerade wenn wir den Materialien der Englischen Commission von 1885-6 nachgehen und nicht der fanatischen Klarheit des „kommunistischen Manifestes" allerhand Dinge mit einander vermengt. Und wiederum das Resultat dieser Vermengung als „Depression" ist selber ein fragwürdiges Ding, wenn wir beobachten, daß dieselbe Depression nicht verhindert hat den Gesammt fortschritt der Englischen Volkswirthschaft in ihren entscheidenden Charakterzügen, und daß ähnliche Entwickelungen in anderen Volkswirthschaften der Gegenwart zu bemerken sind. Von diesen nicht endenden Klagen über Geschäftsstille" und "Geschäftsdruck" hat man daher allmälig

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den Eindruck erhalten wie von den Französischen Kriegsberichten des Jahrs 1870 über die Deutschen Armeen, die sich fortwährend rückwärts concentrierten und bei diesem Rückwärtsconcentrieren zuletzt Paris erreichten.

Hier ist von vornherein auszunehmen die gedrückte Lage der Englischen Landwirthschaft, die sich seit der Zeit jener Kgl. Untersuchungs-Commission erst recht verschlimmert hat, aber eben hierdurch beweist, wie wenig es sich dabei um eine momentane Erscheinung handelt. Sie dauert jetzt, wie in den andern Ländern des alten Europa, zwanzig Jahre, und hat mit irgend einer anderen Seite der erörterten „Depression nichts zu schaffen. Es sind die bekannten Ursachen neuer Produktivität und neuer Verkehrsmittel welche aus Nordamerika und Südamerika, aus Afrika, Ostindien, Australien, Rußland neue Massen landwirthschaftlicher Erzeugnisse herübergebracht haben und die Preise auf dem Englischen Markte (Weizen von 57 Shilling 1871-1872 auf 23 Shilling 1894-95) geworfen haben.

Das ist ein Geschäftsdruck für die Englischen Landwirthe und Grundeigenthümer, aber eine Wohlthat für die große Mehrzahl des Englischen Volkes, zumal der arbeitenden Klassen, die dadurch neben anderen gleichzeitigen Ursachen ihre Lebenslage erhöht haben. Für sie ist der Druck der Nothdurft um so viel leichter geworden, als der Geschäftsdruck für die landwirthschaftlichen Interessenten schwerer war.

Eine andere Seite dieser Depression"!

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Die Commission hebt hervor, daß im Jahre 1874 noch 3% der Gesammtbevölkerung in der Textilindustrie beschäftigt waren, dieses Verhältniß im Jahre 1885 auf 2,7% gesunken sei1). Wenn wir aus der Englischen Statistik entnehmen, daß die Zahl der Spindeln in derselben Textilindustrie 1870-90 von 45 Millionen auf 53 Millionen gestiegen ist, gleichzeitig die Zahl der Kraftwebstühle von 610,004 auf 822,489 und daß dieses Wachsthum ohne Schwankungen in jenen 20 Jahren vorwärts gegangen ist "):

1) Die absoluten Zahlen waren nach dem Statistical Abstract for the United Kingdom for 1881-95

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für das Vereinigte König-1874: 1,005,685 für England
reich von Großbritannien 1878: 975,546

783,022

und Wales

(777,703

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