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Über den Quellenwert und Verfasser des sogen. >>Heidelberger Gesprächbüchleins für Studenten « (manuale scholarium, um 1490).

Von

Gerhard Ritter.

Die Ende des 15. Jahrhunderts in Deutschland massenhaft aufkommenden lateinischen Gesprächbüchlein für Partikularschüler und jüngere Studenten gehören zu den lebendigsten und anschaulichsten Quellenzeugnissen, die wir zur Geschichte der äusseren Lebensformen an spätmittelalterlichen Schulen und darüber hinaus zur Geschichte des deutschen bürgerlichen Lebens jener Zeit überhaupt besitzen. Die Tatsache ihrer raschen Verbreitung hängt mit dem empfindlicher gewordenen Sinn der humanistisch angeregten Kreise für reine Latinität zusammen; noch stärker aber lässt sie die jetzt überall einsetzende Kritik am herkömmlichen Unterrichtsbetrieb erkennen. Man will den lateinischen Sprachunterricht an Stelle der traditionellen Schinderei mit grammatischen Merkversen und logischen Erörterungen mehr auf den praktischen Bedarf des täglichen Lebens zuschneiden. Längere Zeit überwiegt dieses rein praktische Interesse bei weitem; von der neuen klassizistischen Sprachkunst selber ist noch wenig oder gar nichts zu spüren. Zumal von dem ältesten gedruckten Studentendialog gilt dies: dem sogenannten »Heidelberger manuale scholarium (das Fr. Zarncke 1857 nach Wiegendrucken der Münchener Bibliothek herausgab1) trotz geflissentlicher Verbeugungen des Autors vor der literarischen Tagesmode, die in ihrer

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1) Die deutschen Universitäten im Mittelalter. I. Leipzig 1857.

steifen Eleganz und gesuchten Förmlichkeit beinahe erheiternd wirken 1). Seine Entstehung ist offenbar mehr dem glücklichen Geschäftssinn eines Schulmannes, Bursenhalters oder Buchhändlers zu verdanken, der die neue Kunst des Buchdrucks in den Dienst eines längst empfundenen (und schon in früheren Epochen durch handschriftliche Publikationen befriedigten) Bedürfnisses zu stellen wusste, als pädagogischem Eifer um Verbesserung der Schulsprache. Was den besonderen Charakter und Reiz des Büchleins im Unterschied zu späteren ähnlichen Produkten der eigentlichen Humanisten ausmacht, ist gerade die Sorglosigkeit und naive Treue, mit der hier das auf mittelalterlichen Universitäten herkömmliche, bequeme und halbbarbarische Schullatein, der Umgangston des täglichen Lebens, in jeder kleinsten Wendung nachgeahmt wird. Die Scholaren, die hier auftreten und ihre Schülernöte, ihre Liebesabenteuer und Streiche miteinander beraten, leben vor unsern Augen, als wären sie gestern aus einem Schlummer von vier Jahrhunderten erwacht. Keine nachträgliche Dichterphantasie würde ausreichen, sie uns so echt und unmittelbar wiederzuerwecken, wie sie selber sich hier äussern. Da ist nichts von kunstvoll stolzierender Rhetorik, nichts von angequälter Schwärmerei für ciceronische Phrasen: da ist die Naivität und der Schalk, die Mühsal und der geniessende Leichtsinn, die kleinbürgerliche Bedrängtheit und die derbsinnliche Lebenslust, die Roheit und die unverwüstliche Frische altdeutschen Studentenlebens selber, mit allen qualvollen und komischen Zügen seiner verfallenden halbmönchischen Lebensformen. In gewissem Grade besitzen wohl auch die anderen Schülerdialoge der Zeit 2) diese Vorzüge: ihr Zweck, dem Gebrauch des täglichen Lebens zu dienen, bedingte das. Aber in wenigen andern Schriften wirkt die Unbefangenheit des Autors so natürlich, tritt die lehrhaftmoralisierende Tendenz so stark zurück, wie in der unseren. Moderne pädagogische Gewissenhaftigkeit mag sich darüber

1) Vgl. 1. c. p. 16, 10, 22; p. 42, 24 u. ö. 2) Vortreffliche Übersicht und Zusammenstellung (mit ausführl. Inhaltswiedergaben) s. bei A. Bömer, Die latein. Schülergespräche der Humanisten (c. 1480—1564) I—II. = Kehrbachs Texte u. Forsch. z. Gesch. d. Erz. u. d. Unterr. I, 1897/9.

entsetzen; dem urwüchsig-derben Empfinden jener Tage entsprach sie gewiss vortrefflich, wie die hohe Zahl der Auflagen (nicht weniger als 13 Ausgaben innerhalb von etwa 10 Jahren sind nachweisbar!) beweist. Je farbiger, anschaulicher, kräftiger die Schilderung, um so enger ist freilich der Gesichtskreis. Wenn unter den Händen des Erasmus die Form des Schülerdialoges sich zu einer grossangelegten Zeitsatire erhob, die in jeder Neuauflage ihr Thema noch erweiterte, so bleibt unser Büchlein von so hohen Absichten weit entfernt. An Satire fehlt es freilich auch ihm nicht; der anonyme Verfasser ist offenbar ein junger Magister oder Bakkalar, dem nichts lieber aus dem Munde geht, als eine Respektlosigkeit gegen die Autorität der hochmögenden Ordinarien. Es ist die nüchterne, unbesorgte Respektlosigkeit des gesunden Menschenverstandes, der man in der ganzen volkstümlichen Literatur jener Epoche begegnet. Unwillkürlich fühlt man sich diesen Dialogen gegenüber an gewisse Szenen der Fastnachts- und Osterspiele erinnert, in denen die Personen ähnlich auf- und abtreten und ihre unbefangene, sehr weltliche Kritik bestehender Autoritäten an den Mann bringen. Trotz aller prosaischen Kleinlichkeit im einzelnen gehörte doch diese kritische Einstellung der Geister im ganzen (nach Rankes Wort) zu den besten Vorzügen einer Generation, die berufen war zur Reformation der Welt.

Der Quellenwert des Büchleins als Zeugnis für das studentische Leben und Treiben an spätmittelalterlichen Hochschulen ist denn auch lange Zeit unbestritten geblieben. Die darin enthaltene älteste uns überlieferte Beschreibung einer >> Fuchsentaufe< ist schon im 17. Jahrhundert mehrfach abgedruckt und seitdem unzählige Male in abgeleiteten Darstellungen wiederholt oder doch benutzt worden. Über diese studentischen Dinge hinaus hat Prantl in seiner grundlegenden >> Geschichte der Logik im Abendlande« auch die Mitteilungen des Schriftchens über den spätscholastischen Lehrbetrieb als originales Quellenzeugnis verwertet: die Erörterungen der beiden Gesprächspartner über den Unterschied und das gegenseitige Wertverhältnis von via antiqua und via moderna dienten ihm zur Bestätigung seiner auf

anderem Wege1) gewonnenen Ansicht über das Wesen dieser beiden Schulrichtungen. Erst neuerdings hat man den Quellenwert der Schrift in starken Zweifel gezogen, und zwar in einem doppelseitigen Angriff: der Literarhistoriker Böhmens, R. Wolkan, hat die Verfasserschaft für einen Chemnitzer Schulmeister beansprucht, als ursprünglichen Schauplatz der Dialoge nicht Heidelberg, sondern Leipzig bezeichnet und ihnen damit jede Bedeutung für die Heidelberger Universitätsgeschichte abgesprochen 2); anderseits hat der (im Kriege gefallene) Erfurter Stadthistoriker Fr. Benary Tendenz und geistige Haltung des Ganzen als derartig minderwertig hingestellt, dass die Schrift als ernsthaftes Zeugnis geschichtlicher Zustände überhaupt nicht mehr in Betracht käme 3).

Aber weder der eine noch der andere Kritiker versucht eine erschöpfende quellenmässige Begründung seiner Ansicht; das grosse Interesse, das unsere Schrift für die deutsche Universitätsgeschichte wie für die Inkunabelforschung besitzt, lässt daher eine neue Untersuchung ihrer Autorschaft und ihres Quellenwertes geboten erscheinen.

Überschaut man die gesamte Literatur der Dialogbüchlein in ihren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen, wie wir es vorhin versuchten, so begreift man schwer die moralische Entrüstung, mit der Benary das Heidelberger Manual in seitenlangen Wiederholungen übergiesst: da soll es sich um eine » ganz gemeine Tendenzschrift« eines feigen humanistischen Anonymus handeln, der »die in ihrer Urteilslosigkeit hilflose Jugend« durch laszive Zweideutigkeiten für sich gewinnen will, ihre scholastischen Lehrer »aus dem Hinterhalt mit Kot bewirft«, für seine Amateurstudien aber Reklame macht usw. Es hat keinen Zweck, auf das einzelne dieser moralischen Angriffe näher einzugehen. Wer den Humor dieses halb übermütigen und dreisten, halb ängstlichen und devoten Tones der Schülergespräche nicht

1) Nämlich vor allem aus dem Studium Joh. Gersons, s. Geschichte der Logik IV, 147 ff. 2) Geschichte d. deutschen Lit. in Böhmen bis z. Ausg. d. 16. Jahrh. Prag 1894, S. 159-164. 3) Zur Geschichte d. Stadt u. Universität Erfurt im Ausg. des Mittelalters, bes. Teil: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Hochschulen des Mittelalters. Gotha 1919.

erfassen kann, dem bleibt freilich der Sinn des Ganzen verschlossen. Die Magister des 15. Jahrhunderts hätten schwerlich die Erregung Benarys geteilt; ein Blick in den Inhalt der zahlreichen von Bömer mitgeteilten Gesprächsbüchlein lässt das erkennen; es ist trotz moralischer Betrachtungen doch meistens ein ähnlicher, lustig-unbekümmerter, sehr wenig ängstlich moralischer Ton, der darin herrscht, nirgends eine Scheu vor nackten Natürlichkeiten. Gewiss: auf unser Empfinden wirkt vieles davon verletzend, ja roh und schamlos. Aber wer die volkstümliche dramatische Literatur jener Epoche kennt, weiss auch, das diese Zuchtlosigkeit zum Stile der Zeit gehörte; wer da verdammen will, hat es schwer, Gradabstufungen des Unanständigen herauszufinden. Vollends von einer unehrlichen Propaganda für die humanistischen >> Amateurstudien«, von einem schlauberechneten Verächtlichmachen der scholastischen »artes« kann im Ernste nicht die Rede sein. Das bedarf für einen Leser, der das Ganze ohne Vorurteil aufnimmt, keines besonderen Beweises. Der Autor versucht nicht mehr, als eine Verteidigung des neuen >>poetischen Unterrichts, gegen die Angriffe der Aristoteliker1); die scholastische Lehrmethode als Ganzes wird überhaupt nicht in Betracht gezogen, geschweige denn bekämpft.

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Die moralische Anzweiflung des Wertes unserer Quelle ist also nicht ernst zu nehmen; um eine Tendenzschrift handelt es sich keinesfalls. Gewichtiger und weit schwerer zu beantworten ist die von Wolkan aufgeworfene und verneinte Frage, ob diese Schülerdialoge auch irgendwelchen besonderen Wert für das Verständnis lokaler Verhältnisse und insbesondere des Gegensatzes zwischen den scholastischen Schulrichtungen in Heidelberg besitzen. Um das zu beurteilen, wird es in erster Linie nötig sein, wenn nicht den Autor, so doch wenigstens den Ort und die Zeit 2) der Ent

1) Bei Zarncke p. 16. 2) Auf die Frage der Entstehungszeit gehe ich im folgenden nicht näher ein. Sie ergibt sich aus den unten mitgeteilten Datierungen der Drucke und den von Zarncke 224 zusammengestellten Anhaltspunkten des Textes von selber annähernd, sobald der Entstehungsort und Verfasser festgelegt ist. Auf die von Bömer (17) und W. Fabricius (Die akade mische Deposition, p. 8) angeführten grossen Heidelberger Turniere von 1481

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