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XV. Zum Verständnis eigentümlicher Ablaßurkunden.

In jedem größeren Urkundenbuch, das bischöfliche Schreiben aus dem Mittelalter enthält, begegnet man nicht selten eigentümlichen Ablaßbriefen. Zunächst wird darin unterschieden zwischen schweren und läßlichen Sünden: für die ersteren wird ein Ablaß von 40 Tagen (40 dies criminalium), für die andern ein Ablaß von einem Jahre erteilt (annus venialium); dazu gesellt sich noch öfters der Erlaß einer Karene (cum una carena). Sodann verheißen die Urkunden Vergebung für vergessene Sünden (peccata oblita), für vergessene oder nachlässig verrichtete Bußen (poenitentiae oblitae et male factae), für gebrochene Gelübde (vota fracta), für Beleidigungen der Eltern (offensae patrum et matrum), für Eidbrüche (transgressiones fidei et iuramenti), für rechtswidrige Aneignung fremden Gutes (retentio rei alienae), für Entheiligung der Sonn- und Festtage (violatio dierum celebrium). Öfters wird auch den Geistlichen, welche die ausgesandten Almosensammler gut aufnehmen und fördern, die Verzeihung der beim Breviergebet und beim Meßopfer begangenen Fehler in Aussicht gestellt (negligentia in missis et horis canonicis). Derartige Urkunden haben schon manchmal zu allerhand Mißverständnissen Anlaß gegeben; es dürfte daher nicht unnütz sein, zu zeigen, wie die einzelnen Privilegien zu verstehen sind. Wenden wir zunächst unsere Aufmerksamkeit der Hauptsache zu: dem Ablasse für schwere und läßliche Sünden.

1. Quadraginta dies criminalium et annus venialium.

Um den Ablaß überhaupt richtig zu verstehen, muß man auf die Buẞdisziplin des früheren Mittelalters zurückgehen. Dies gilt besonders von den eigentümlichen Ablaß bewilligungen, in denen unterschieden wird zwischen schweren und läßlichen Sünden. Im früheren Mittelalter gab es zwei Klassen von Büßern: diejenigen, denen wegen schwerer Sünden eine öffentliche Buße auferlegt worden war, und diejenigen, die in geheimer Beichte wegen geringerer Sünden eine Privatbuße empfangen hatten. Dieser Unterschied tritt klar hervor in einer Urkunde, die öfters als die älteste Ablaßbewilligung für Almosen und Kirchenbesuch betrachtet wird, in dem Privilegium, das der Erzbischof Pontius von Arles um 1019 der Abtei Montmajour gewährt haben soll (Bd. I 135 f.). Wer für schwere Sünden eine öffentliche Buße zu verrichten hatte, sollte für ein Jahr von dem dritten Teil seiner Sünden befreit sein (sit absolutus de tertia parte maiorum

peccatorum, unde poenitentiam habet acceptam); denjenigen aber, die für geringere Sünden Buße empfangen hatten (qui de minoribus peccatis sunt confessi et habent acceptam poenitentiam), wurde ebenfalls für ein Jahr die Hälfte der Buße erlassen (absolvimus de una medietate acceptae poenitentiae usque ad unum annum). Man beachte wohl, daß den öffentlichen Büßern ein Erlaß der Sünden verheißen wird, während im zweiten Falle von einem Erlaß der Buße die Rede ist. In beiden Fällen handelt es sich aber um eine und dieselbe Sache, um einen Erlaß der für die Sünden auferlegten Bußstrafe. Wenn es in mittelalterlichen Ablaßbriefen so oft heißt: ,,Remissionem peccatorum facimus", so bedeutet dies nichts anders als:,,Remittimus peccata quoad poenam", was die geschuldete Strafe anlangt (Bd. I 253 ff.). Schon der Umstand, daß für ein Jahr ein Drittel der Sünden erlassen wird, zeigt sonnenklar, daß es sich nicht um die Sündenschuld, sondern bloß um die Sündenstrafe handelt. Denn, was die Sündenschuld betrifft, kann eine schwere Sünde nicht ohne die übrigen erlassen werden. Ebenso wenig kann eine Sünde der Schuld nach bloß für die Zeitdauer eines Jahres vergeben werden. Die Bußstrafe dagegen können die kirchlichen Oberen sehr wohl teilweise erlassen.

In einer Ablaßurkunde, die Urban II. im Jahre 1091 für das Kloster Pavilly ausgestellt hat (Bd. I 153), wird wohl auch zwischen den beiden Büßerklassen unterschieden; aber beide erhalten denselben Ablaß, nämlich den Erlaß des vierten Teils der auferlegten Buße (quartam poenitentiae partem ab episcopo (öffentliche Büßer) sive a presbytero (geheime Büßer) illis iniunctam condonavimus).

Als die öffentliche Buße seltener wurde und daher die Unterscheidung der beiden Büßerklassen für manche Gläubige keine große Bedeutung mehr hatte, wurde zwar diese Unterscheidung in Ablaßbriefen nicht ganz aufgegeben; statt aber sie auf die Büßerklassen auszudehnen, beschränkte man sie gewöhnlich auf die Sünden. Man unterschied zwischen schweren und läßlichen Sünden und bestimmte für beide Sündenklassen einen eigenen Ablaß. Diesen doppelten Ablaß konnte dann eine und dieselbe Person gewinnen, falls sie in der Beichte für schwere und läßliche Sünden Buße empfangen hatte. In diesem Sinne ist ohne Zweifel schon der Ablaß zu verstehen, den im Jahre 1100 Bischof Odo von Urgel den Mitgliedern einer von ihm an der Abteikirche Lillet errichteten Bruderschaft erteilte: sowohl für die schweren (de criminalibus) wie für die geringeren Sünden (de minimis peccatis) wurde die Hälfte der Buße erlassen (Bd. I 177). Dasselbe gilt von dem Ablaß, den um 1114 Bischof Guido von Pavia den Wohltätern eines Spitals in Portalbera gewährte: für schwere Sünden erließ er ein Drittel, für geringere die Hälfte der Buße (Bd. I 178). In verschiedenen Ablaßbriefen des 12. und 13. Jahrhunderts kommt freilich auch noch die alte Unterscheidung der zwei Büßerklassen vor.1

1 Es genüge auf ein Beispiel aus der Mitte des 13. Jahrhunderts zu verweisen. In einem Schreiben vom Jahre 1259 erteilt Erzbischof Gerhard I. von

Bei den ältesten Ablässen für Almosen und Kirchenbesuch wurde der Erlaß der Bußstrafe nach Bruchteilen bemessen: es wurde ein Siebtel, ein Viertel, ein Drittel oder die Hälfte der Buße erlassen. Bald aber kam die Sitte auf, die Buße nach bestimmten Zeitmaßen zu vermindern; es wurden Ablässe von 10, 20, 40, 100 Tagen oder von einem Jahre erteilt. Im Laufe des 12. Jahrhunderts erscheinen öfters in derselben Urkunde beide Berechnungsarten miteinander vereinigt; z. B. in einem Ablaßbrief des Bischofs Dalmatius von Roda (Spanien) aus dem Jahre 1118: von der Buße für schwere Sünden werden 40 Tage erlassen, während für geringere Sünden ein Drittel der Buße nachgelassen wird (I 178). Etwas anders lautet ein Ablaß des Erzbischofs Hugo von Rouen vom Jahre 1156: den Büßern für schwere Sünden wird ein Jahr, jenen aber, die nur für läßliche Sünden Buße empfangen hatten, die Hälfte erlassen (I 184). Einige Jahre später (1171-72) erteilte der Kardinallegat Hildebrand Grassi 40 Tage Ablaß für schwere Sünden (40 dies de criminalibus) und erließ ein Drittel der Buße für läßliche Fehler (tertiam partem de venialibus) (I 186). Im Jahre 1178 erläßt Bischof Renauld von Noyon die Hälfte der Buße für läßliche Sünden und gibt einen Ablaß von 40 oder 7 Tagen für schwere Sünden (criminalium quadragena vel septem dies poenitentiae iniunctae relaxentur) (I 186). Dagegen verhießen die Bischöfe der Normandie im Jahre 1184 jenen, die Beiträge für den Kreuzzug spenden würden, die Vergebung aller läßlichen Sünden (venialia omnia), während sie von der Buße für schwere Sünden drei oder zwei Jahre erließen (I 203). Es braucht wohl nicht eigens betont zu werden, daß auch dieser Erlaß, gleich den obigen Ablaßbriefen, sich nicht auf die Sündenschuld, sondern auf die Sündenstrafe bezieht; der Unterschied ist nur, daß hier alle Strafen für läßliche Sünden erlassen werden, während in jenen Ablaßurkunden bloß ein Teil der Strafen vergeben wird.

Von andern älteren Ablaßbewilligungen, in denen ein Unterschied gemacht wird zwischen schweren und läßlichen Sünden, seien noch folgende kurz erwähnt. Im Jahre 1187 erläßt Erzbischof Sergius von Neapel drei Jahre Buße für schwere und ein Drittel für läßliche Sünden (I 187). Bischof Otto von Freising soll 1196 in Tattenhausen 140 Tage Ablaß für schwere Sünden und 80 Tage für läßliche gewährt haben (I 189). Bischof Adelard von Verona erläßt 1197 20 Tage für schwere, ein Siebtel der Buße für läßliche Sünden (I 190). Bischof Longus von Ferentino erteilt 1209 einen Ablaß von 40 Tagen für schwere Sünden und erläßt ein Viertel der Buße für läßliche Fehler (I 191). Ein Viertel der Buße für läßliche Sünden erläßt auch Bischof

Mainz für Kirchenbesuch am Kirchweihfeste im Thüringer Land folgenden Ablaß: ,,Poenitentibus (d. h. den öffentlichen Büßern) dimidiam carenam, aliis vero contritis pariter et confessis XX dies de iniuncta sibi poenitentia... relaxamus.“ C. Beyer, Urkundenbuch der Stadt Erfurt I, Halle 1889, 100 [Geschichtsquellen der Provinz Sachsen XXIII].

Heinrich II. von Straßburg (1202—23), während er für schwere Sünden nur einen Ablaß von 15 Tagen verheißt (I 191).

Mit der vierten Lateransynode vom Jahre 1215 trat in den bischöflichen Ablaßbewilligungen eine Änderung ein. Auf dieser Synode wurde verordnet, daß fürderhin bei der Einweihung von Kirchen nur ein Ablaß von einem Jahre und für den Jahrestag der Kirchweihe ein Ablaß von 40 Tagen verliehen werde. Mit dieser Bußermäßigung von 40 Tagen sollte man sich auch begnügen bei Ablaßbewilligungen, die für andere Zwecke zu geschehen pflegten. Abgesehen von dem Ablasse, der bei der Einweihung einer Kirche verliehen wurde, sollten demnach die Bischöfe nur noch einen Ablaß von 40 Tagen erteilen.

In Widerspruch hiermit scheint eine weitverbreitete Praxis zu stehen, die bald nach 1215 aufkam. Es wurde nämlich, hauptsächlich in Deutschland, Sitte, daß die Bischöfe einen Ablaß von 40 Tagen für schwere Sünden erteilten und einen weiteren Ablaß von 80 oder 100 Tagen oder einem Jahre für läßliche Sünden beifügten. Höchst selten kommt es vor, daß die 40 Tage, welche die Bischöfe bewilligen durften, auf die schweren und läßlichen Sünden verteilt werden. So hat z. B. Bischof Rüdiger von Passau im Jahre 1241 einen Ablaß von 40 Tagen verliehen, mit der Bestimmung, daß davon 10 Tage auf schwere, 30 Tage auf läßliche Sünden sich beziehen sollen.1 Bisweilen lautet auch der Ablaß auf 20 Tage für schwere und 20 Tage für läßliche Sünden. Doch das sind Ausnahmen. Gewöhnlich wird bloß ein Ablaß von 40 Tagen verheißen oder es wird für schwere Sünden eine vierzigtägige Bußermäßigung gewährt und dazu noch ein Ablaß für läßliche Sünden verliehen. Wurde aber damit die Vorschrift der Lateransynode nicht übertreten? Daß Bischöfe bei Verleihung von Ablässen jene Vorschrift nicht selten übertreten haben, steht außer allem Zweifel. Wenn indessen dem gesetzmäßigen Ablaß von 40 Tagen so oft ein weiterer Ablaß für läßliche Sünden beigefügt wurde, so dürfte dadurch die kirchliche Vorschrift kaum verletzt worden sein. Auch Männer, die gewohnt waren, die kirchlichen Anordnungen streng zu beobachten, haben kein Bedenken getragen, nebst dem üblichen Ablaß von 40 Tagen einen weiteren Ablaß für läßliche Sünden zu gewähren. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist die Handlungsweise des großen Theologen Albertus Magnus.

In seinem Kommentar zu den Sentenzen des Lombarden hebt Albert hervor, daß nach der kirchlichen Bestimmung die Bischöfe, abgesehen von dem Kirchweihprivileg ium, nur einen Ablaß von 40 Tagen verleihen dürfen.3 Später aber hat er selber als Bischof wiederholt mit dem 40tägigen Erlaß einen Ablaß von einem Jahre

1 Boczek III 4: „,XL dies, X criminalium et XXX venialium, de peccatis, quibus vere contriti fuerint et confessi, super quibus poenitentiam habuerint, relaxamus."

2 Wirtembergisches Urkundenbuch III 310.

3 Sent. IV, d. 20, a. 21. Opera XXIX 857.

verbunden. So hat er mehrmals für Almosen oder Kirchenbesuch einen Ablaß von 40 Tagen für schwere und einem Jahre für läßliche Sünden erteilt.1 Daß er, ohne gegen die kirchliche Vorschrift zu verstoßen, derartige Ablässe verleihen konnte, ergibt sich aus seinen theologischen Grundsätzen. Nach seiner Ansicht hat die für läßliche Sünden auferlegte Buße keinen verbindlichen Charakter. Wie man nicht verpflichtet ist, diese Sünden zu beichten, so ist auch nicht erfordert, daß dafür eine bestimmte Buße auferlegt werde.2 Wird dennoch eine Buße dafür auferlegt und angenommen, so kann es sich dabei nicht um ein Gebot, sondern nur um einen Rat handeln. Daß aber bei der Nachlassung einer derartigen unverbindlichen Buße die kirchliche Vorschrift, nicht mehr als 40 Tage Ablaß zu erteilen, nicht in Betracht kommt, ist leicht einzusehen. Sind nämlich die Gläubigen nicht verpflichtet, diese Buße zu verrichten, so kann sie ihnen auch von dem Bischof in uneingeschränkter Weise erlassen werden. Die Verordnung der Lateransynode bezieht sich bloß auf Bußen, die einen verpflichtenden Charakter haben. So erklärt sich, wie trotz der Lateransynode die Bischöfe nebst dem gesetzmäßigen Ablaß von 40 Tagen noch einen weiteren Ablaß für läßliche Sünden erteilen konnten.1

Bei dem Ablaß für schwere Sünden handelte es sich anfänglich, wie bereits oben angedeutet worden, in erster Linie um eine Milderung der öffentlichen Buße, ohne daß freilich die geheime Buße, falls eine solche für schwere Vergehen auferlegt worden war, ausgeschlossen gewesen wäre. Obschon nun im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts die öffentliche Buße immer seltener wurde, so behielt man doch bei der Erteilung von Ablässen die alte Formel bei, aber ohne damit einen Unterschied zwischen öffentlichen und geheimen Büßern machen zu wollen. Im Gegensatz zur früheren Praxis bezog sich jetzt der Ablaß für schwere Sünden in den meisten Fällen auf die geheime Buße. Von 1215 an belief sich dieser Ablaß gewöhnlich auf 40 Tage, mitunter auch nur auf 10, 15, 20 oder 30 Tage. Nur ganz ausnahmsweise begegnet man nach der vierten Lateransynode bischöflichen Urkunden, in denen der Ablaß für schwere Sünden noch nach Bruchteilen berechnet wird. So erließ Bischof Johann von Grenoble im Jahre 1219 für Beiträge zu einem Brückenbau den vierten Teil der für die reu

1 Urkundenbuch der Stadt Straßburg II 11. Urkundenbuch der Stadt Basel II 15 20. Urkundenbuch der Stadt Braunschweig II (1900) 105. Delaville III 183 189 194.

2 Sent. IV, d. 16, a. 47:,,In mortali exigitur confessio... cum satisfactione taxata; quorum nihil requiritur in poenitentia venialium, sed tantum dolor cum quotidiana satisfactione. Opera XXIX 641.

3 Sent. IV, d. 21, a. 12:,,Confitenti venialia non est iniungenda poenitentia, sed ad memoriam revocanda satisfactio quotidiana pro venialibus ab Ecclesia instituta, scilicet tonsio pectoris, Pater Noster, Ave Maria et huiusmodi; et si suscipiatur poenitentia, non erit iniuncta in praecepto, sed in consilio." Opera XXIX 882.

4 Schon Binterim (Denkwürdigkeiten V 3 [1829] 486) hat bemerkt: „Die Bischöfe hielten sich befugt, über die nicht so schweren Verbrechen einen ausgedehnteren Nachlaß gestatten zu können.“

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