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II.

Kirchliches Gewohnheitsrecht.

Von

Dr. Ad. von Scheurl, ordentlichem Professor der Rechte zu Erlangen.

Zweiter Artikel.

In meinem vorigen Artikel über kirchliches Gewohnheitsrecht (II. Jahrgang, Heft 2 dieser Zeitschrift) hatte ich mir durch die Schlussbemerkung zunächst eine umfassendere polemische Behandlung dieses Gegenstands vorbehalten. Dort hatte ich mit der Entwicklung meiner Ansichten über das kirchliche Gewohnheitsrecht nur eine Bestreitung der Lehre Puchta's und auch dieser nur insofern verbunden, als sie einen Charakter des kirchlichen Gewohnheitsrechts behauptet, welcher von dem des weltlichen Gewohnheitsrechts specifisch verschieden sei. Jene Polemik habe ich vor Allem noch durch den Nachweis zu ergänzen, dass Puchta's Auffassung des kirchlichen Gewohnheitsrechts als eines autonomischen Rechts unhaltbar ist.

Es scheint mir unverkennbar, dass diese Auffassung sich Puchta als ein blosser Nothbehelf aufdrang, zu dessen Ergreifung er sich darum genöthigt fand, weil er seine allgemeine Theorie des Gewohnheitsrechts aus den im vorigen Artikel von mir dargelegten Gründen auf das kirchliche nicht anzuwenden wusste, oder vielmehr nicht anwenden zu dürfen glaubte, und dass er dabei wesentlich durch Just Henning Böhmer bestimmt war. Wenn er (Gewohnheitsrecht Thl. 2. S. 265) sagt, in dessen Jus eccl. prot. Lib. I. Tit. 4 finde sich das Beste, was (bis dahin) über consuetudo

et observantia ecclesiastica geschrieben worden, so stimme ich ihm darin ganz bei, indem diese Ausführungen Böhmer's sich nicht nur durch den Reichthum des darin benützten historischen Stoffs, sondern auch durch Schärfe und Klarheit der Begriffe, wie durch eine für seine Zeit ungewöhnlich tiefe Einsicht in das Wesen des Gewohnheitsrechts überhaupt und des kirchlichen insbesondere auszeichnen.

Böhmer suchte hier nachzuweisen, dass das Gewohnheitsrecht die ursprüngliche Existenzform des Kirchenrechts war, und stellte den wichtigen Lehrsatz auf (§ 13), die Gewohnheit oder das Herkommen sei nicht Rechtsquelle im e. S., sondern immer nur Erkenntnissmittel oder Zeugniss für ein bereits vorhandenes Recht: Observantia stricte et proprie non recte dicitur jus ipsum, sed potius est testimonium de jure jam ante vel expresse vel tacite constituto et idem operatur in jure non scripto, quod scriptura in scripto 1). Es konnte ihm also auch der Gültigkeitsgrund des Gewohnheitsrechts nicht in der Gewohnheit, sondern nur in einem inneren Moment liegen, wovon die Gewohnheit oder das Herkommen blosse Aeusserung ist. Oder vielmehr eben darum, weil er von der Ueberzeugung ausging, dass die Kraft alles Rechts nur auf einem zur Rechtssatzung befugten Willen beruhen könne (§. 11), ergab sich ihm hieraus jener richtige, und doch so oft verkannte Lehrsatz. Nur darin vermochte er sich nicht über die Vorstellungsweise seiner Zeit zu erheben, dass er diesen die Geltung des kirchlichen Gewohnheitsrechts begründenden Willen sich als einen vertragsmässigen dachte, als das Produkt einer stillschweigenden Uebereinkunft der sämmtlichen Kirchengenossen als der Glieder eines Collegiums (§. 23). Sehr sinnig aber erklärte er dann das Zustandekommen solcher sogenannter stillschweigender Verträge theils (§. 24) aus dem Ansehen dem Ansehen der Kirchenvorsteher (auctoritas eorum, qui ecclesiis praesunt), welches die sämmtlichen Kirchenglieder bewege, ihre Handlungsweise nachzuahmen, und so übereinzukommen, dass dieselbe als Regel des Handelns gelten solle, theils (§. 25) aus der Rücksicht

1) Es ist damit auch noch besonders §. 31 zu vergleichen.

auf öffentliche Wohlanständigkeit (ratio decori publici), welche ebenso die sämmtlichen Glieder einer Genossenschaft zur allgemeinen Anerkennung der Nothwendigkeit einer an sich freien Handlungsweise zu bestimmen pflege. Man sieht leicht, wie nahe er dadurch der Erkenntniss der Wahrheit gekommen war, dass ein die Einzelnwillen beherrschender, nicht aus ihnen hervorgehender kirchlicher Gesammtwille, welcher die (Universal-, Partikular- oder Orts-) Kirche als eine von der jeweiligen Menge ihrer Glieder zu unterscheidende und über derselben stehende Einheit zum Subjekt hat, der eigentliche Gültigkeitsgrund des kirchlichen Gewohnheitsrechts sei. Aber jedenfalls war eben Böhmer doch nicht bis zu dieser Erkenntniss wirklich durchgedrungen; er war stehen geblieben bei dem Gedanken, dass eine auf die eben bezeichnete Art bewirkte Vereinigung des Willens der einzelnen Kirchenglieder es sei, was das kirchliche Gewohnheitsrecht erzeuge. Und damit fordert er uns zu der Frage heraus, wie es denn mit der bestehenden Kirchenverfassung in Einklang zu bringen sei, dass solche stillschweigende Willensvereinigungen der einzelnen Kirchenglieder die Macht haben sollen, durch die unter sich stillschweigend vereinbarten Regeln alle künftigen Kirchenglieder zu verbinden, ja sogar, wie Böhmer ausdrücklich annimmt (§. 32), das bestehende Kirchenrecht zu begränzen, einzuschränken und zu ändern? Auf diese Frage lässt er uns ohne Antwort, und so kann offenbar seine Theorie dem wissenschaftlichen Bedürfniss nicht genügen.

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Scheinbar hat nun Puchta, während er gleich Böhmer die Kraft des kirchlichen Gewohnheitsrechts in den im vorigen Artikel angeführten Stellen seines Werks über das Gewohnheitsrecht (II. S. 273 ff.) auf "stillschweigende Uebereinkunft der Kirchenglieder zurückführte, jenen Mangel verbessert, indem er a. a. O. S. 275 wörtlich so sagte: „Die Möglichkeit, die der Kirche von Christus, ihrem Haupt, gegeben worden ist, ihre Verhältnisse selbst zu ordnen, nur natürlich mit unveränderter Beibehaltung seiner Vorschriften, können wir, mit einem im weltlichen Recht für ähnliche Verhältnisse gebräuchlichen Ausdruck, Autonomie nennen.Nun wiederholt sich aber dieser Gegensatz gewissermassen

in der Kirche selbst, die wir gegenüber ihrem Haupt eine autonomische genannt haben. Es sind Regenten der Kirche bestellt, und diesen auch die Vollmacht gegeben worden, in ihren nach der näheren Vorschrift der Verfassung gemachten rechtlichen Festsetzungen die Organe für jene autonomische Thätigkeit der Kirche zu sein. Diesen Gesetzgebern gegenüber haben aber die Glieder der Kirche noch immer die Befugniss, Recht hervorzubringen, behalten, eine Befugniss, welche zum Theil in der Gesammtheit derselben (wie z. B. bei der Reformation), am sichtbarsten aber in ihrer Ausübung durch die einzelnen, in der gesammten Kirche enthaltenen Körperschaften hervortritt, in der evangelischen Kirche in den Kirchengemeinden, in der katholischen, welche den Laien diese Thätigkeit entzogen hat, in den geistlichen Korporationen. Dieses Recht, welches der Gesetzgebung ebenso gegenübersteht, wie das durch die Kirche überhaupt gesetzte den göttlichen Vorschriften, kann man somit ein autonomisches im engern Sinne nennen." Und weiterhin wird dann ausgeführt, dass dieses ,,im engern Sinn autonomische Kirchenrecht, insofern es auf stillschweigender Uebereinkunft beruhe, und in kirchlichen Gewohnheiten oder Observanzen sein Dasein kundgebe, das eigentliche kirchliche Gewohnheitsrecht sei.

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Bestimmter ausgedrückt ist es also ein den Gliedern der Kirche der Gesammtheit der Kirchengemeinden, beziehungsweise den einzelnen Kirchengemeinden und geistlichen Korporationen gegenüber der dem Kirchenregiment zukommenden gesetzgebenden Gewalt gebliebenes Recht, Festsetzungen, welche die Kraft wirklicher Rechtssätze haben sollen, für die gesammte Kirche, oder wenigstens für eine ganze Landeskirche, oder für die innern Verhältnisse der einzelnen Kirchengemeinde oder geistlichen Korporation - zu machen, und zwar auch durch stillschweigende Uebereinkunft zu machen, das ist es, worauf die Kraft des kirchlichen Gewohnheitsrechts beruhen soll.

Es mag hier ganz dahin gestellt bleiben, wie sich hieraus für die katholische Kirche die Geltung kirchlicher Gewohnheiten ausser den Observanzen der geistlichen Korporationen derselben erklären liesse: ich beschränke mich auf die Frage, Zeitschr. f. Kirchenrecht. III. 1.

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wie die Geltung protestantischer landeskirchlicher (nicht bloss lokaler) Gewohnheiten hieraus erklärt werden könnte?

Offenbar nur so, dass ein protestantischer Kirchenverfassungs-Grundsatz als anerkannt vorausgesetzt würde, nach welchem neben der Gesetzgebungsbefugniss des Kirchenregiments noch eine Befugniss der Landes-Kirchengemeinde gälte, durch ausdrückliche oder stillschweigende Uebereinkunft Festsetzungen von der Kraft wirklicher Rechtssätze zu machen. Wo findet sich nun aber eine Spur von Geltung eines solchen Verfassungsgrundsatzes, oder wie wäre er auch nur denkbar? Die Aufrichtung eines Kirchenregiments über die Gesammtheit der Kirchengemeinden eines Landes mit gesetzgebender Gewalt schliesst zwar keineswegs die Befugniss jener Gesammtheit aus, an der Ausübung dieser gesetzge benden Gewalt so Theil zu nehmen, dass nur mit ihrer Zustimmung Kirchengesetze überhaupt oder doch gewisse Kirchengesetze erlassen werden können. Aber dass dabei den Kirchengemeinden dem mit gesetzgebender Gewalt bekleideten Kirchenregimente gegenüber die Befugniss autonomischer Rechtssatzung für die ganze Landeskirche nicht blos den einzelnen Kirchengemeinden für ihre besondern inneren Verhältnisse verbleibe, das erscheint mir wenigstens als eine rechtliche Unmöglichkeit. Gerade das, was Puchta als Beleg dafür anführt, dass den kirchlichen Gesetzgebern gegenüber die Glieder noch immer die Befugniss, Recht hervorzubringen behalten, die Thatsache nämlich, dass bei der Reformation die evangelische Kirche durch stillschweigende Uebereinkunft ihrer Glieder von der römischkatholischen sich getrennt, und ihre Verfassung in ihren Grundzügen geordnet habe, spricht in der That für meine Behauptung, es sei ein Verfassungsgrundsatz jener Art unmöglich. Denn unbestreitbar lag in jenem Vorgang ein freilich nach unserer Ueberzeugung nothwendiger Bruch der bestehenden kirchlichen Rechtsordnung. Und ein solcher würde auch jetzt immer damit erfolgen, dass die Gesammtheit der Kirchengemeinden einer evangelischen Landeskirche durch stillschweigende Uebereinkunft untereinander, im Gegensatz gegen das Kirchenregiment und mit Ausschliessung desselben, rechtliche Festsetzungen machte und zu wirk

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