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völlige wissenschaftliche Ueberwindung der Ansicht gelingen möchte, wonach im evangelischen Kirchenrecht die Regeln des kanonischen Rechts über Rationabilität der Gewohnheiten ohne alle Geltung sein sollen. Es heisst das nichts anderes, als: in der evangelischen Kirche soll der Umstand, dass ein sei es auch noch so schreiender Missbrauch lange Zeit sich behauptet hat, rechtserzeugende Kraft haben. Wie übel müsste es um die evangelische Kirche beschaffen sein, wenn sich behaupten liesse, dass sie wirklich diesen Grundsatz anerkenne! Es ist schon schlimm genug, wenn ein einzelnes Kirchenregiment entschiedene Missbräuche so lange duldet, dass sie den Schein eines wahren Gewohnheitsrechts annehmen können. Aber das kann noch nicht der Kirche zum Vorwurf gereichen. Eine Kirche aber, von welcher man sagen dürfte, in ihr gelte der Rechtssatz, dass ein altes Herkommen Recht mache, gleichviel ob es rationabel oder irrationabel sei, würde des Namens Kirche nicht werth sein. Es ist ja immerhin möglich, dass auch ein Kirchengesetz zu Stande und in Uebung komme, welches mit den Grundsätzen, auf welchen die bestimmte Kirche ruht, in Widerspruch steht. Aber das hält doch immer verhältnissmässig schwer. Dagegen, dass sich ein mit jenen Grundsätzen streitendes Herkommen bilde und kraft der vis inertiae sich lange Zeit fortschleppe, kann jedenfalls weit leichter geschehen. Soll also auch ein solches von der Wissenschaft und Praxis wie ein Gesetz anerkannt und geachtet werden müssen, bis es gesetzlich abgeschafft ist, so ist in der That dem Verfall der Kirche Thür und Thor geöffnet.

Von verhältnissmässig viel geringerer Bedeutung ist die fortdauernde Uneinigkeit der heutigen Doktrin hinsichtlich des Erfordernisses der Präskription. Jedermann verlangt beim Beweis der Existenz eines kirchlichen Gewohnheitsrechts den Nachweis langer gleichmässiger Uebung derselben Regel, und andererseits wird nicht leicht ein Vertheidiger des Präskriptions-Erfordernisses es damit so genau nehmen, dass er den Beweis schon desshalb für verfehlt hielte, wenn eine neununddreissigjährige, nur nicht vierzigjährige consuetudo contra legem ecclesiasticam dargethan werden könnte. Aber so ganz unwichtig ist doch auch diese Meinungsver

Zeitschr. f. Kirchenrecht. III. 1.

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schiedenheit nicht, ob die consuetudo contra legem ecclesiasticam nur überhaupt lange Zeit, oder ob sie ohngefähr vierzig Jahre gedauert haben müsse, um als Beweismittel für ein wahres kirchliches Gewohnheitsrecht gelten zu können.

Ich will hier auf den Streit über den Sinn des kanonischen Rechts selbst nicht näher eingehen. Schulte's mühsamer Versuch, nachzuweisen, dass auch das c. ult. X. h. t. nichts weiter sagen wolle, als der Quasibesitz von Rechten, welche das jus commune gegen sich haben, auch wenn er durch eine längere Uebung geschützt sei, führe nur dann zum Erwerbe des Rechts, wenn er ausser der bona fides als Grundlage der Rationabilität die in den Gesetzen für die Präskription statuirte Zeit hindurch gedauert hat (a. a. O. S. 233), scheint mir nicht gelungen, und ich habe schon angedeutet, worin der (irrige) Grund seiner Befangenheit bei diesem Auslegungsversuche lag. Ich bin überzeugt, Gregor IX. wollte dem Aufkommen kirchlicher Gewohnheiten wider das gemeine Recht eine positive Schranke dadurch setzen, dass er bestimmte, das positive Recht solle gleichsam seinen Anspruch auf Beherrschung des Rechtslebens nur durch erlöschende Verjährung binnen der gesetzlichen Zeit verlieren können. Wenn nun aber diese Bestimmung des recipirten kanonischen Rechts als eine mit dem Geist der evangelischen Kirche unverträgliche angesehen wird, so scheint mir das ganz irrig, und kann ich`namentlich die Art, wie es Puchta zu begründen sucht (a. a. O. S. 286 ff.), durchaus nicht überzeugend finden. Er hält nämlich für den Grund jener Bestimmung den, dass die katholische Kirche ihrer eigenthümlichen Verfassung den Grundzügen nach dieselbe Unveränderlichkeit vindicire, welche dem Christenthum selbst zukommt. Ihr müsse also das Streben natürlich sein, auch in solchen Punkten, die sie als veränderlich anerkenne, eine Beständigkeit möglichst zu bewahren, durch welche der Schein des Zufälligen und des Mangels an Einheit unter den verschiedenen Theilen der Verfassung entfernt werde. Die evangelische Lehre dagegen führe keine besondere Verfassung der äusseren Kirche auf einen unmittelbaren göttlichen Befehl zurück; die evangelische Kirche bemesse daher die Vorzüglichkeit kirchlicher

Einrichtungen nicht nach dem Alter, sondern nach ihrem Ursprung aus gläubiger Gesinnung und wahrhaft christlichem Bewusstsein; darum könne in ihr die längere Uebung nicht als besonderes Erforderniss für die Geltung des Gewohnheitsrechts als solchen betrachtet werden.

Es ist zuzugeben, dass dem Wesen des Protestantismus eine geringere Aengstlichkeit in Beziehung auf Veränderung der kirchlichen Einrichtungen entspricht. Doch erkennt darum die evangelische Kirche gewisse Grundlagen ihrer Einrichtungen nicht minder als unwandelbar an, weil sie dieselben nicht, wie die katholische, als durch göttliche Rechtsgebote vorgeschrieben betrachtet. Ferner ist dem Wesen der Kirche überhaupt, auch nach wahrhaft evangelischer Anschauung, eine besondere Stetigkeit der Entwicklung und eine grössere Unabhängigkeit von zeitlichen Verhältnissen eigen, so dass sehr wohl auch die evangelische Kirche es für zweckmässig finden kann, einer vom gemeinen Recht abweichenden Uebung nur bei etwa vierzigjähriger Dauer Beweiskraft dafür zuzugestehen, dass das gemeine Recht in dem bestimmten Punkt wirklich eine gewohnheitsrechtliche Aenderung erlitten habe. Das recipirte kanonische Recht, sofern es dieses bestimmt, scheint mir sonach jedenfalls nicht in dem Maass mit dem Wesen des Protestantismus unvereinbar, dass man desshalb seine Unanwendbarkeit in der evangelischen Kirche behaupten dürfte.

III.

Der Missbrauch der geistlichen Amtsgewalt und der Recurs an den Staat.

Von

Dr. Emil Friedberg,

Docenten der Rechte an der Universität Berlin.

Erster Artikel.

I.
Frankreich.

Kein Institut des Staatskirchenrechts wird von den französischen Publicisten und Rechtsgelehrten mehr gepriesen als der appel comme d'abus, keines hat seit Jahrhunderten. zu mehr Beschwerden und Klagen der Geistlichkeit Anlass gegeben.

Französische Staatsmänner haben wohl dem unbekannten Erfinder des appel comme d'abus Statuen votirt 1), Feuret) meinte, dass er ausrufen könne wie Archimedes εvora, svona, da Besseres der Art nicht erdacht werden könne, Pasquier 3) nannte das Institut den Hauptnerv des franzö sischen Staates.

Und in der That ist die ganze französische Rechtsentwicklung, soweit sie das Verhältniss zwischen Staat und Kirche betrifft, wesentlich durch den appel comme d'abus bedingt worden, selbst die eigenthümliche Stellung der gallikanischen Kirche, die sich in mancher Beziehung als

1) Dupin Manuel du droit publ. ecclés. franc. (Paris 1845.) S. 243. 2) Traité de l'abus (Paris 1654.) liv. 1. c. 1. S. 13. Vgl. Laboulaye Revue de législat. 1845. S. 483.

3) Recherches de la France liv. 3. c. 27.

ein vom grossen Körper der allgemeinen Kirche losgerissenes Glied gebahrte, wäre ohne den appel comme d'abus unmöglich gewesen. —

Man hat sich bemüht, und namentlich ist das von dem gelehrten Pariser Erzbischof Petrus von Marca 1) geschehen, schon in den ältesten christlichen Zeiten die Spuren des appel comme d'abus nachzuweisen.

Das mag gegenüber von Anfeindungen des Institutes, die ebenfalls auf diese Zeiten recurriren, von einigem Werthe sein, kann aber für die Begründung und Erklärung des französischen appel comme d'abus zu erspriesslichen Resultaten nicht führen, da eine Continuität der Entwicklung zwischen den Zeiten Justinians und Franz I. von Frankreich nicht angenommen werden kann 5).

Zu einer Zeit, wo die Existenz der Kirche mehr oder weniger von dem willkürlichen Belieben des jeweiligen Kaisers abhing, wo die grosse Machtbefugniss des weltlichen Regenten auch die ganze Kirche mitumspannte ), konnte von einer Competenzüberschreitung Seitens der letzteren kaum die Rede sein, und wenn eine solche jemals vorgekommen wäre, so würde sie auf dem Wege der Gewalt, und nicht vermittelst eines Rechtsinstitutes vom Staate zurückgewiesen worden sein 7).

Die Einwirkungen, die der Staat aber derzeit beständig auf die Kirche ausübte und denen sich dieselbe theils zu ihrem eigenen Besten nicht entziehen mochte, theils nicht entziehen konnte, wurden auch nicht durch ein Institut er

4) De concordia imperii et sacerdotii. lib. 4. c. 4 und passim. (Bambergae 1788.) 2, 190. ff. So auch in neuerer Zeit. Portalis in seinem Rapport über die organischen Artikel.

5) Auf die Ungleichartigkeit der Verhältnisse weist mit Recht hin Affre de l'appel comme d'abus. (Paris 1845.) S. 10. ff.

6) Vgl. darüber auch Hundeshagen, Entwicklung des Verhält nisses zwischen Staat und Kirche in Dove, Ztschr. f. Kirchenrecht 1, 249. f.

7) Vgl. Novella 123. c. 2: »Omnibus episcopis et presbyteris interdicimus segregare aliquem a sacra communione, antequam causa monstretur propter quam sanctae regulae hoc fieri jubeant; qui vero aliquem praeter haec a sancta communione segregare praesumpserit, modis omnibus a sacerdote sub quo constitutus est, separabitur a communione, quanto tempore ille prospexerit,« etc.

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