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die in den Händen der in Niederbronn wohnenden Schwester der Friederike, mit diplomatischer Genauigkeit abgeschrieben habe. Diese vermeintlichen vier Gedichte Goethes erschienen denn auch an der Spitze von Chamisso und Schwabs 'Deutschem Musenalmanach' auf d. J. 1838 S. 1-7 mit dem Eingangsvermerk 'Aus dem Original-Manuscript mitgetheilt'; der Einsender war auf seinen Wunsch ungenannt geblieben. Es sind in Wirklichkeit sechs Stücke: Nr 1 entspricht unserer Nr 1, Nr 2 Nr 9, Nr 3 Nr 4, Nr 4 aber vereinigt Nr 2 und dann nach einem durch Striche markierten Absatz Nr 3 und Nr 6, diese beiden in continuo gedruckt. Schon diese letzte Tatsache spricht aber ganz entschieden gegen die Benutzung der 'Originale', denn wie diese Kruse vorgelegen haben, war es unmöglich, die Gedichte Nr 3 und Nr 6 in eines zu ziehen! Das muß also auf einer Zwischenstation erfolgt sein.

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Einige Jahre später hat dann Stöber in seinem Büchlein 'Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim' (Basel 1842) S. 109 bis 116 den ersten Abdruck, zu dem er sich jetzt (nach Sophiens Tode) bekannte, mit einigen häßlichen neuen Fehlern, wiederholt, aber diesmal betont, daß der Text aus Abschriften der Sophie Brion geschöpft sei. 'Die Originalien kamen ihr abhanden; allein sie versicherte, die Abschriften seien getreu.' Wie in dem Brief an Schwab fügt er auch jetzt hinzu, außer den hier mitgeteilten seien noch zwei bekannte Stücke unter den Abschriften Sophiens gewesen: stand nur abgerissen dabei: Es schlägt (!) mein Herz, geschwind zu Pferde! bis Sah schläfrig aus dem Duft hervor. Ebenso das bekannte Kleine Blumen, kleine Blätter'.

Aus diesen wiederholten Versicherungen geht mit voller Bestimmtheit hervor: 1. Stöber hat in Abschriften der Sophie Brion in Niederbronn vorgefunden nach seiner Meinung 6, in Wirklichkeit 8 Stücke des Bestandes, der bei Kruses Anwesenheit noch. 10 Nummern betrug. 2. Er hat nicht mehr angetroffen Nr 5 (Wo bist du itzt) und Nr 8 (Balde seh ich Rickgen wieder). 3. Er hat von dem Abdruck der Nr 5 in den Blättern für literar. Unterhaltung vom 5. Jan. 1837 keinerlei Kundschaft, weder 1837 noch 1842, kann also auch zu dem Verfasser der Briefe aus Elsaß und Lothringen' kein so intimes Verhältnis gehabt haben, wie das in der Darstellung der Preuß. Jahrb. 88, 420 als selbstverständlich angenommen wird. Dieser Anonymus ist von dem Verdachte nicht ganz frei, das Original von Nr 5 als 'Andenken' behalten zu haben.

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Zweierlei erscheint allerdings merkwürdig: einmal daß August Stöber, der doch gleich nach dem Abschluß seiner Studienzeit im

Frühling des Jahres 1834 nach Oberbronn übersiedelte, so spät auf seine Niederbronner Nachbarin und ihre Schätze aufmerksam geworden ist, daß ihm nicht nur Kruse, sondern auch noch der Anonymus zuvorkamen. Wir können doch aus den Berichten aller drei entnehmen, daß die Existenz der Sophie Brion und ihrer Manuscripte aus der Goethe-Zeit keineswegs ein Geheimnis war. In den Bll. f. lit. Unterhaltung a. a. O. heißt es geradezu: 'Im Besitz einiger Manuscripte Goethes pflegt sie dieselben den freundlich Ersuchenden gleichfalls nicht vorzuenthalten', und Stöber meldet an Schwab: es sind viele Abschriften davon verbreitet'. Noch wunderlicher ist der Widerspruch, daß Stöber dieselben Texte, die er 1837 aus den 'Originalien' copiert haben will, 1842 bestimmt als Abschriften Sophiens entnommen bezeichnet. Die ausdrückliche Hervorhebung: 'die Originale kamen ihr abhanden' schließt die Annahme, daß er 1837 unter den Originalen etwas anderes verstanden habe, unbedingt aus; es bleibt nur die eine Erklärung übrig, daß er zunächst die Abschriften Sophiens gutgläubig als die Originale angesehen und sich dann bei einem spätern Besuche überzeugt hat, daß es späte Copieen waren; daraufhin wird ihm Sophie dann die tröstende Versicherung gegeben haben, daß ihre Abschriften 'getreu' seien.

Stöber will mit diplomatischer Genauigkeit abgeschrieben haben', d. h. Wort für Wort, nicht etwa Buchstaben für Buchstaben, Satzzeichen für Satzzeichen. Sophiens Rechtschreibung war gewiß nicht die moderne, saubere, die wir in den beiden Abdrücken Stöbers antreffen. Von diesen ist nur der erste zu brauchen; ich stelle aus ihm die Wortvarianten zusammen, da die Abweichungen der Schreibung und Interpunction wertlos sind diese mögen zum Teil gar erst von Schwab herrühren. Nr 1 V. [29 fühllos] 35 reimend] träumend (!)

[43 Drum

höre] Nr 3 V. 8 gebacknen] gebratnem [10 Falke = Falcke Kruse] Nr 4 V. 2 itzt] jetzt 3 Dich nicht] doch nicht 18 Thal]

Bogengang

[am Bach]

Nr 6 V. 9 Und wie die kleinen Kinder sein] Wir wollen wie die Kinder sein.

Nr 9 V. 20 strudelt] sprudelt

Die Varianten 1, 29. 1, 43 haben der 'Junge Goethe' und die Weimarer Ausgabe in den Text aufgenommen, wozu gegenüber der erwiesenen Sorgfalt Kruses keine Veranlassung war; ferner 4, 18 am Bach, wohl als Besserung eines Schreibfehlers. Dagegen ist die durch Kruse und Stöber gesicherte Lesung Falcke 3, 10 im

'Jungen Goethe' und jetzt wieder in der Weimarer Ausgabe durch ein willkürliches (resp. von Hirzel verlesenes?) Falber verdrängt worden.

Die Lesarten 1, 29. 1, 43. 3, 8. 9, 20 sind von vorn herein concurrierende Varianten, zwischen denen wir uns aber für Kruse, der die 'Originale' wirklich 'diplomatisch' abschrieb, gegen Stöber, der eine Copie Sophiens modernisierte, entscheiden müssen. Die Lesart 4,2 ist natürlich eine Modernisierung.

Eine schlimme Entgleisung ist die Wortwiederholung 1, 35, die den rührenden Reim träumend: träumend schafft. (Stöber behält ihn auch im zweiten Abdruck bei, es ist also schwerlich ein Setzerfehler des Musenalmanachs.) Ein sicherer Lesefehler ist 4, 3 Du wolltest doch nicht säumen, wodurch ein matter, prosaischer Ausdruck entstanden ist, und eine durch mechanische, aber unschöne Wiederholung des Wir wollen aus V. 7. 8 veranlaßte Abweichung bringt 6, 9.

Es bleibt die höchst merkwürdige Variante 4, 18. Kruses Abschrift bietet buchstäblich:

Er läuft in Gegenden, wo er mit dir gegangen

Im krum Thal, im Wald, an Bach

Dafür hat die Abschrift Sophiens in der Wiedergabe Stöbers Im krummen Bogengang usw. Die Metrik gibt keine Entscheidung, denn in diesem Gedichte Lenzens ist die Zahl der Hebungen nur für die vierte Verszeile in allen acht Strophen die gleiche: 4. Die erste Zeile hat dreimal 6, fünfmal 5 Hebungen, die dritte sechsmal 6 und zweimal 5, und für unsere, die zweite Zeile, sind dreimal 5 (Str. 4. 6. 7) und viermal 4 Hebungen (Str. 1. 2. 3. 8) gesichert: es wären also bei der Freiheit des Strophenschemas beide Lesarten möglich. Für die Variante Stöbers resp. Sophiens spricht das Vorurteil, das der lectio difficilior zur Seite steht: eine bloße Verschreibung kann Bogengang für Thal unmöglich sein. Aber wie wir Kruse oben kennen gelernt haben, ist ihm anderseits ein solches Ausgleiten nur schwer zuzutrauen. Es bleiben zwei Möglichkeiten übrig: entweder ist Bogengang eine alte, vom Dichter herrührende Variante, sei es nun daß sie in der Hs., die ja hier wirklich das Original war, durch ein übergeschriebenes Thal verdrängt werden oder umgekehrt das ursprünglich dastehende Thal ersetzen sollte: dann hätten Kruse und Sophie gegenüber dem Dilemma verschiedene Entscheidungen getroffen. Oder aber es ist eine 'in den Text gedrungene Glosse', d. h. in diesem Falle eine Erläuterung, die Sophie selbständig ge

geben hat, indem sie dem 'krummen Thal', das sie näher zu kennen glaubte, die in der Wirklichkeit übliche Flurbezeichnung gab. Denn daß es sich um einen Flurnamen und weder um die von Erich Schmidt aus der Interpretation glücklich entfernten Straßburger Gewerbslauben noch um die von Siebs (S. 433) neu eingeführten Straßen von Fort Louis handelt, leidet für mich keinen Zweifel. Den Versuch einer Erklärung geb ich in der Anmerkung 1).

Damit bin ich am Schlusse meiner Kritik und Geschichte der Handschriften und Abschriften Sophie Brions angelangt. Was ich über eine anderwärts erschlossene 'Quelle' zu sagen habe, verweis ich in den Excurs': für die höhere Kritik des Sesenheimer Liederbestandes haben die Abschriften Falcks keinen Wert.

II. Goethe und Lenz.

Als die Sesenseimer Gedichte 1875 in Salomon Hirzels 'Jungem Goethe' I 261-270 zum ersten Male vollständig publiciert wurden, galten sie dem Herausgeber ebenso wie dem ersten Entdecker und Copisten ohne Ausnahme als Goethisches Eigentum, und auch Michael Bernays fand in seiner Einleitung (S. LXXXIV) keinen Anlaß, die Freude an dem hier vereinigten lyrischen Blütenstrauß durch einen Zweifel einzuschränken. Wie H. Kruse so hat H. Düntzer bis zuletzt das Anrecht Goethes auf alle 10 Stücke behauptet und die Würdigkeit aller verfochten, in die Reihe der echten Werke aufgenommen zu werden. Und noch im vergangenen Jahre hat Julius Goebel von der Stanford University geglaubt, 'The Authenticity of Goethes Sesenheim Songs' im vollen Umfang aufrecht erhalten zu müssen (Modern Philology I 159-170).

Zu dieser Gruppe der Verteidiger des Gesamtbestands stellt

1) In Marburg heißt eine (neuerdings bebaute) Straße 'am Krummbogen': sie führt eine Krümmung der Lahn entlang und hieß urkundlich einst der krumme wog (=mhd. wâc). Da mir nun das gleiche wōg aus elsässischen Ortsnamen wie Röschwoog bekannt war, zog ich in Sesenheim Erkundigungen ein. E. Martin vermittelte freundlich die folgende Auskunft des Herrn Pfarrer Rübel: 'Zwischen Drusenheim und Sesenheim befindet sich eine Gewanne, welche den Namen Woog führt; dieselbe liegt an der Moder, da wo dieselbe eine scharfe Krümmung nach NO. macht, etwa ein Kilom. von Drusenheim entfernt. Von dort hat sich wohl der Vaubankanal abgezweigt, der durch Sesenheim hindurch führte und an dem Goethe entlang gegangen ist, wenn er von Drusenheim kam.'

Das krumme Thal ist mithin das Thal der Moder, und Sophie hätte im Abschreiben die Oertlichkeit präcisiert, indem sie die Bezeichnung des Geländes sei es in volkstümlicher Umformung sei es in eigener Verhochdeutschung einfügte.

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sich in den entschiedensten Gegensatz Bielschowsky. Von den acht Nummern, auf welche von vorn herein kein bezeugter Anspruch Goethes vorliegt, spricht er nicht weniger als fünf Lenz zu: Nrr 1. 3. 4. 5. 8, sodaß also außer Kleine Blumen, kleine Blätter' (Nr 7) und Es schlug mein Herz' (Nr 10) nur die kurzen Stücke 'Jetzt fühlt der Engel was ich fühle' (Nr 2) und 'Ich komme bald, ihr goldnen Kinder' (Nr 6) sowie die von Sophie im Gedächtnis aufbewahrten Verse 'Dem Himmel wachs entgegen' (Nr 11) Goethische Producte aus der Sesenheimer Zeit sein sollen, da ja Ein grauer, trüber Morgen' (Nr 9) schon wieder nach Frankfurt (October 1771) fällt. An dieser weitgehenden Aussonderung des Lenzischen Anteils hat Bielschowsky allen Einwendungen zum Trotz festgehalten, vgl. seine Goethebiographie I2 S. 503.

Gegen das stark rhetorische, in Liebeskummer und Liebeszweifel schwelgende Gedicht Nr 4 (Ach bist du fort? Aus welchen güldnen Träumen) sind schon früh, von Viehoff, Strehlke und J. W. Schäfer, Bedenken und Proteste erhoben worden; auf die Dauer haben sich wohl nur noch Kruse und Düntzer (und neuerdings wieder Goebel) dagegen gesträubt, seine durch und durch ungoethische Art anzuerkennen: sie hielten eben unbedingt daran fest, daß es doch aus einer Originalhandschrift Goethes abgeschrieben sei! Im übrigen haben auch die entschiedensten Anhänger der Ueberlieferung dies Gedicht gern und unbedenklich an Lenz abgetreten, so R. Weißenfels, Goethe im Sturm und Drang I (1894) S. 130 und Siebs, Preuß. Jahrb. 88 (1897) S. 432 f.

Der erste, der nach dem Erscheinen des Jungen Goethe' die Echtheitsfrage neu aufnahm, war wohl G. v. Loeper, der in der Hempelschen Ausgabe 22, 245 die beiden Nrr 4 (Ach bist du fort?) und 5 (Wo bist du itzt?) mit Bestimmtheit aus Goethes Besitzstand ausschied und Lenz zuwies. Ihm schlossen sich die Verfasser der 'Studien zur Goethe-Philologie' (1880), Minor und Sauer an, die diese beiden Stücke aus ihrer Commentierung der Goethischen Jugendlyrik fortlassen. Unter der Vorbereitung seiner Ausgabe der Gedichte von Lenz kam K. Weinhold zu der gleichen Auffassung: vgl. seine Nrr 14 und 15 und die Anmerkungen dazu. Und auch Erich Schmidt wird man dieser Gruppe beizählen dürfen, nachdem er in den Anmerkungen zum 'Pandaemonium Germanicum' (1896) S. 44 Lenz als Verfasser von Nr 5 anerkannt hat; früher wollte er dies hübsche Gedichtchen für Goethe festhalten, war dagegen, wohl unter dem unmittelbaren Eindruck der Publication Falcks, geneigt, Nr 3 an Lenz abzutreten (Charakteristiken, 1886, S. 280 f. 283).

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