Den Stoff der Entrüstung kann er sich, wenn er keinen hat, leicht verschaffen, indem er irgend eine Voraussetzung macht, nach dem bekannten Schema: „Wenn meine Tante Räder hätte, so wäre sie ein Omnibus." Wenn z. B. Genosse Stadthagen im Reichstag sagt: Eine Sittlichkeit, die nach außen sich bemüht zu erröten, aber sich innerlich freut, kann uns nicht imponieren"; so klingt das als etwas Besonderes. Die Parteigenossen erkennen daraus, daß diese edle Sittlichkeit ein Vorzug ihrer Partei ist und fühlen stolz ihre Brust schwellen." Die ganze Perfidie und Ruchlosigkeit dieser auch von den griechischen Sophisten der Volksberedsamkeit virtuos gehandhabten Taktik des Volksbetruges muß man sich vergegenwärtigen, wenn man die leidenschaftliche Auflehnung der anständigen Elemente gegen Demagogentum und Massenherrschaft richtiger würdigen will, als es der noch immer weitverbreiteten konventionellen Auffassung griechischer Geschichte möglich ist. Wenn irgendwo, so trifft es hier zu, daß nur das, was wir selbst erleben, uns die Vergangenheit deutet.') Angesichts dieser Erfahrungen der Gegenwart versteht man auch das Gefühl der Resignation, das Männer wie Plato und Isokrates gegenüber der Demagogenherrschaft erfüllte.) Hat doch der Demagoge stets das triumphierende Bewußtsein, daß der von ihm bearbeitete Demos sich als das Volk" zar' ozýv fühlt, das einen Widerspruch gegen die wahrhaft volkstümliche Politik seiner Führer höchst übel nimmt. " Kommt einmal ein Gegner" · heißt es in der vertraulichen Anweisung so wird er immer auf starken Widerstand stoßen und für den Redner genügt, um ihn zu widerlegen, meist schon der Hinweis, daß der Gegner bei dem beschränkten Gesichtskreis 1) Eine Tatsache, die besonders schön von Harnack formuliert worden ist in seinen Gedanken über Wissenschaft und Leben". Internationale Wochenschrift 1907 S. 13 „Das Leben der Menschheit ist nur durch ein Studium zu erfassen, welches die Gegenwart ebenso scharf im Auge behält, wie die Vergangenheit". 2) Vgl. die bittere Ironie, mit der Plato im Gorgias 473 e Sokrates sagen läßt: Ich bin zum Politiker zu ungeschickt". Kein Wunder, daß er die Politiker und Redner der radikalen Demokratie vor allem als schlechte Volkserzieher verwirft. S. meine Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der ant. Welt. II2 65 f. der Bourgeoisie gar nicht imstande sei, die Bedürfnisse und das wahre Wohl des Volkes zu beurteilen, daß der Arbeiter darüber eine viel richtigere Meinung habe. Mag der Redner im Innern über seine Zuhörer denken was er will, in der Art des Verkehrs muß er durchaus merken lassen, daß er keine Klassenunterschiede kennt. Darin liegt auch ein Grund dafür, daß er allen Gegnern überlegen ist, und das ist ein weiterer Anlaß für ihn, dreist zu reden.“ Angesichts dieser vertraulichen Geständnisse der Demagogen selbst kann man sich über die Unsumme von Gehässigkeit, Verleumdung und Lüge nicht verwundern, welche der in solchen Formen geführte politische Kampf notwendig zur Folge hat und ganz besonders im demokratischen Stadtstaat zur Folge haben mußte, wo es nur zu oft ein Kampf um Besitz, Ehre und Leben war: sozusagen eine Reinkultur des Klassenkampfes auf kleinstem Raum, wie es ein moderner Staatsrechtslehrer treffend genannt hat. Hier tritt uns überall die zersetzende und zerstörende Wirkung des Zungengiftes verlockender Verführer" entgegen, in das nach einem Wort des Euripides,die Pfeile der Scheelsucht getaucht sind, die der proletarische Neid gegen die Besitzenden richtet. 1) So kann man es dem athenischen Publizisten lebhaft nachempfinden, wenn er es bitter beklagt, daß gegenüber der demagogisch bearbeiteten Masse vernünftige und besonnene Ratgeber ohnmächtig seien, sowenig man auch verkennen wird, daß diese Klage zugleich eine tendenziöse Spitze gegen die Staatsmänner enthält, die seinem politischen Programm feindlich gegenüberstanden. Ist es doch dem Demos längst von der Bühne herab ins Gesicht gesagt worden, daß im Volksstaat nur zu oft die bloße Zungenfertigkeit den Sieg über Wahrheit und Gerechtigkeit davonträgt, daß die edelsten Vorkämpfer des Rechtes schnöder Mißgunst zum Opfer fallen.) Gegen den Demagogen mit der 1) Schutzflehende 238 ff. " 2) Euripides Fr. 297 bei Nauck Fragm. trag. gr. idŋ rào ɛidor zai δίκης παραστάτας ἐσθλοὺς πονηρῷ τῷ φθόνῳ νικωμένους. Vgl. Fr. 57. " unverschämten Zunge, stark durch Dreistigkeit, 1) der auf den Lärm des Pöbels pocht, kommt der brave Mann schwer auf.2) So wahr er sprechen mag, er rührt nicht des Pöbels Herz und der Schurke siegt." 3),Es ist ein Krebsschaden des Staates, wenn der edle und tüchtige Mann nicht mehr gilt, als die schlechteren.*4) Und doch sind es gerade diese, welche, überall sich vordrängend, in der Gunst des Volkes am höchsten stehen." 5) Ganz wie es die vertrauliche Anweisung für die modernen Höflinge der Masse triumphierend verkündet und der antike. Publizist bestätigt. Es sind Verhältnisse, unter denen selbst der frechste und stupideste Dilettantismus in der Maske demokratischer Gesinnungstüchtigkeit wahre Orgien feiern kann. Den unbequemen Mahnern und Warnern aber sagt Isokrates begegnet der Demos mit Mißtrauen, ja offener Feindseligkeit.) Wenn ihm eine Ansicht mißfällt, ist es mit der Freiheit der Rede zu Ende. Überhaupt existiert die Redefreiheit in dieser Demokratie auf der Rednerbühne nur für Toren und selbstsüchtige Streber und im Theater für die Komödiendichter.) Eine Ansicht, an der bei aller Übertreibung jedenfalls so viel richtig ist, daß, soweit unsere geschichtliche Erfahrung reicht, bei ausartender Demokratie die Redeund Preßfreiheit am frühesten verfallen.8) Hat doch selbst der Demokrat Demosthenes einmal gesagt, es würde ihn wundernehmen, wenn ihm nicht die Äußerung einer gewissen unliebsamen Wahrheit schweren Schaden brächte! 1) Vgl. die obige Vertrauliche Anweisung". 2) Euripides Orestes 891. Übrigens klagt auch Demosthenes über den Vorsprung der Zungenfertigkeit in der Politik, XVIII 5. 3) Ebenda 893, 906, 931 f. 4) Hekabe 306. 5) Fragm. 786. 6) Symmach. 13 f. Die Menge tobt, wenn sie an Recht und Pflicht gemahnt wird. Wenger a. a. O. S. 161. 7) Ebenda 14 ἐγὼ δ' οἶδα μὲν, ὅτι προσαντές ἐστιν ἐναντιοῦσθαι ταῖς ὑμετέραις διανοίαις, καὶ ὅτι δημοκρατίας οὔσης οὐκ ἔστι παρρησία, πλῆν ἐνθάδε μὲν τοῖς ἀφρονεστάτοις καὶ μηδὲν ὑμῶν φροντίζουσιν, ἐν δὲ τῷ θεάτρῳ τοῖς κωμῳδοδιδασκάλοις. Vgl. auch 39. 8) Roscher, Politik S. 324. ,Politisch heterodoxe Gesin sagt Wenger a. a. O. S. 162 ist Hochverat". Denn nicht für Alles und alle Zeit ist die Freiheit der Rede bei Euch gestattet, ja, ich wundere mich, daß sie mir jetzt zuteil geworden ist." 1) Ist es ihm doch selbst einmal begegnet, daß ihm während einer Rede die Gegner förmlich auf den Leib rückten, ihn unterbrachen und verhöhnten und schrien, während der Demos lachte und Schluß verlangte.) Und bei einer anderen Gelegenheit erhebt er sogar mit dürren Worten gegen die Demokratie den Vorwurf, sie habe die Freiheit der Rede, auf die sie sich soviel zugute tue, aus ihren politischen Versammlungen verbannt.3) In einer anderen Rede, die wohl auch von Demosthenes stammt, wird es bitter beklagt, daß der Demos überhaupt nicht gewohnt sei, in Ruhe über etwas zu beraten.) Wer Dinge vorbringe, die dem Demos mißfallen, den jage man einfach von der Rednerbühne herunter.5) Ein drastischer Kommentar zu dem, was ein kompetenter moderner Beurteiler über diesen Demos der Unbildung und des Radaus" gesagt hat.") So bedeutet das Problem, das Isokrates eben im Hinblick auf diese Zustände zur Sprache bringt, der Kampf um die Grenzen der Meinungsfreiheit in der Demokratie, nicht minder eine Grundfrage des Staatslebens, als die Frage nach den Grenzen der Demokratie selbst. Und wie diese letztere durch die moderne Entwicklung des Demokratismus immer mehr in den Vordergrund gerückt ist, so auch die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Meinungsfreiheit. Der 1) III 32. ἐβόων ἐξέκρουόν με τελευτῶντες ἐχλεύαζον, ὑμεῖς δ' ἐγέλατε. Vgl. über dieses Herunterschreien von der Tribüne ἀπελαύνειν ἀπὸ τοῦ βήματος ταῖς κραυγαῖς Aschines I 34. 3) IX 3, vgl. III 3. 4) Χ [Δημ.] 29 οὐδὲ βουλεύεσθαι περὶ οὐδενὸς εἰώθατε ἐφ' ἡσυχίας. Man denkt dabei lebhaft an das Ergebnis unserer modernen Demokratisierung, infolge deren ruhige verständige Belehrung gegen das Demagogentum immer schwerer aufzukommen vermag. 6) Ebenda . . . καὶ ἐάν τι λέγῃ τις, ἐκβάλλετε. Vgl. II 31 die wiederholte Bitte, Redefreiheit zu gewähren. 6) Wenger a. a. O. S. 162. neueste Darsteller der Demokratie bezeichnet es geradezu als eine ewige Klage, daß in Demokratien selbständige Persönlichkeiten und Meinungen nicht aufkommen können.1) Gerade in der radikalsten, d. h. in der sozialen Demokratie, hat die Frage der geistigen Bewegungsfreiheit bereits zu leidenschaftlichen Kämpfen geführt. Diese Demokratie hat einst durch den Mund Lassalles die Alliance mit der Wissenschaft proklamiert und diesen Bund durch das wie ein Manifest wirkende Buch von Engels über die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft gewissermaßen besiegelt. Auch hat sie seitdem nie aufgehört, immer wieder zu versichern, daß ihre Sache zugleich die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und die Entfesselung der Geister bedeute und daß alle Parteigrundsätze sich mit der Wissenschaft in Einklang setzen müßten. Und in derselben Demokratie, welche dereinst die freie wissenschaftliche Forschung geradezu als ihr Lebenselement bezeichnete, hat sich bereits eine Richtung siegreich durchgesetzt, die das Organisationsstatut der Partei zu einem Strafgesetz zum Schutze der reinen Lehre machen möchte und für die Parteidogmatik kanonische Geltung in Anspruch nimmt:2) die Unterordnung der Wissenschaft unter die für ewige Wahrheiten erklärten Sätze der Parteidoktrin, die ja bereits zu förmlichen Ketzergerichten geführt hat.3) Durch Verhängung von existenzvernichtenden Strafen soll die Heiligkeit des unfehlbaren Parteidogmas, des papierenen Papstes, wie es der alte Liebknecht genannt hat, gegen die freie Forschung geschützt werden. Ganz offen wird unter dem stürmischen Beifall leidenschaftlich erregter Massen 1) Hasbach, Die moderne Demokratie, 1912, S. 302. Vgl. auch, was ebenda S. 356 im Hinblick auf A. v. Tocquevilles berühmtes 7. Kapitel des 2. Bandes der Démocratie en Amérique von der Tyranny of Majority" und dem,Fatalism of the Multitude" gesagt wird. 2) Wie ein hervorragender Sozialist selbst sich ausdrückt. Heine, Autodafé. Sozialistische Monatshefte 1912 (1). 3) Man denke an die massenpsychologisch höchst charakteristischen Parteiverdikte gegen den Verfasser des Buches über die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus (Hildebrand). |