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Die einansichtige Gruppe
und die späthellenistische Kunst.

Von

Dr. Gerhard Krahmer in Göttingen.

Mit 4 Tafeln.

Vorgelegt in der Sitzung vom 17. Juni 1927 von H. Thiersch.

Die Laokoongruppe (Abb. 1) gehört zu den wenigen Denkmälern der hellenistischen Epoche, die zeitlich mit annähernder Genauigkeit bestimmt sind. Ihre Entstehung fällt ungefähr in die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. Eine solche Datierung, die unabhängig von der Stilkritik gewonnen ist, hat natürlich den größten Wert für uns. So wollen wir mit der Untersuchung der Laokoongruppe beginnen, indem wir diesmal unser besonderes Augenmerk auf ihre Komposition richten, und den Versuch machen, das späthellenistische1) Kunstschaffen zu ihr in Beziehung zu bringen. Daß die Gruppe in dem jetzigen Zustand falsch ergänzt ist, daß der Arm des Vaters und wohl auch der des jüngsten Sohnes nicht ausgestreckt waren, sondern im Ellenbogen gebeugt zu den Köpfen der Figuren hinführten, ist bekannt (Helbig-Amelung I, 151, S. 96).

Von Wichtigkeit erscheint vor allem die Anordnung der Figuren nebeneinander. Hierin unterscheidet sich das Werk von Gruppen wie dem im dritten Jahrhundert v. Chr. gearbeiteten Pasquino 2) oder von der Dornauszieherszene im Louvre, die der Spätzeit der hellenistischen Kunst angehört (Klein, Rokoko 64 Abb. 27). Denn während diese, auf Rundung komponiert, nicht nur nach einer sondern nach mehreren Seiten hin Ansichten ermöglichen, sind die drei Gestalten unseres Werkes so angeordnet, daß sie gewissermaßen auf einem imaginären Hintergrund angebracht zu sein

1) Darunter verstehen wir das zweite und erste Jahrhundert v. Chr. 2) Mit Recht sagt E. Schmidt (Festschr. für Arndt 101) von dieser Gruppe: So verschieden, ja fast unbegrenzt, ihre Ansichtsmöglichkeiten sind nie verliert der Herumwandelnde ... den Zusammenhang usw.

scheinen. Die Komposition bekommt dadurch jenen Werken gegenüber etwas reliefmäßiges. Dieser Aufbau hat zur Folge, daß dem Werk auch jene Vielansichtigkeit der verglichenen Schöpfungen mangelt. Ja, die ganze Komposition bietet in der Tat sogar nicht mehr als eine einzige Ansicht, selbst von noch so untergeordneten Nebenansichten kann nicht die Rede sein, falls man an sie künstlerische Ansprüche stellt. Verlassen wir die Mittelachse, die auf die Komposition senkrecht führt, und treten nach rechts oder nach links seitlich heraus, so ergeben sich in dem neuen Bilde Verzerrungen der Kompositionslinien, durch die häßliche Entstellungen der Gesamtwirkung hervorgerufen werden. So löst sich bei einer Ansicht, die mehr von rechts genommen ist, der Körper des jüngeren Sohnes ganz aus dem kompositionellen Zusammenhange heraus, während bei einem Abweichen des Beschauers nach links sich die Figuren übereinander schieben und unschöne Überschneidungen bilden (Abb. 2). Dies zeigt uns, daß die Laokoongruppe keine eigentliche Nebenansicht, sondern nur eine einzige Hauptansicht hat. Wir müssen daher diese Gruppe einansichtig nennen. Der Aufbau vermag nur eine einzige Ansicht von künstlerischem Wert zu gewähren. In diesem Punkt hat der Laokoon seinen nächsten Verwandten in der Hermaphroditengruppe, deren besterhaltenes Exemplar in Dresden bewahrt wird (Abb. 3; Dresden Nr. 155), und deren kompositionelle Eigenart zum ersten Mal von Eduard Schmidt klar und scharf erfaßt worden ist (Festschrift für Arndt 99 ff.). Mit Recht betont E. Schmidt, daß diese Gruppe einzig und allein für eine einzige Ansicht komponiert sei, daß schon ein kleiner Schritt von der Hauptansicht aus zur Seite den richtigen Eindruck aufhebe und das „Rhythmisch-Sinnvolle" dabei in der Verzerrung erscheine (Abb. 4). Genau so ist es bei dem Laokoon, nur daß dieser Schritt zur Seite im Verhältnis zum Größenunterschied, der dieses Werk von dem Dresdner Typus trennt, auch etwas reichlicher bemessen sein muß, um den entsprechenden Eindruck zu bewirken. Wir sagten oben nach flüchtiger Prüfung, daß der Laokoon einen reliefmäßigen Eindruck mache. Dazu paßt durchaus die Einansichtigkeit des Werkes, die wir eben feststellten. Mit dieser Eigenschaft hängt eng zusammen, daß ein großer Teil der Kompositionslinien die Breite betont, was nicht allein durch das Nebeneinander der Figuren bewirkt wird, sondern ebenso durch eine Anzahl der Linien des Aufbaues, wie den zum Teil seitlich gerichteten Bewegungen der Körper und die Haltung der Arme. Diese Ausbreitung der Gruppe, diese Linien und Bewegungen scheinen gleichsam auf den imaginären

Hintergrund Rücksicht zu nehmen und damit in uns die Erinnerung an das Relief wach zu rufen. Die gleiche Ausbreitung und scheinbare Rücksichtnahme auf den gedachten Grund zeigt auch die Hermaphroditengruppe; es genügt hierfür auf die sehr instruktiven Abbildungen 7 und 8 bei Schmidt zu verweisen. Das Merkwürdige und Wichtige besteht aber darin, daß diese in der Breite sich entwickelnden Linien an Quantität fast übertroffen werden von solchen, die in die Tiefe streben und die sich von den Breitenrichtungen und dem gedachten Grunde durch den Bewegungsgegensatz lebhaft abheben. Wir brauchen sie nicht bis ins einzelnste hinein zu beschreiben, für die Laokoongruppe genügt es auf die in den Körpern enthaltenen Beugungen nach vorne, auf die Richtung der Oberschenkel aufmerksam zu machen, zu erwähnen, daß der Platz des jüngsten Sohnes weit herausgerückt ist aus der Raumschicht, in der sich der Körper des Vaters befindet; für die Hermaphroditengruppe sei auf den weit herausquellenden unteren Teil gegenüber den viel weiter zurückliegenden Oberkörpern der Figuren und vor allem auf die schon genannten Abbildungen bei E. Schmidt hingewiesen, die dieses Verhältnis und die einzelnen Tiefenlinien besser zum Ausdruck bringen als es eine Beschreibung vermöchte. So sehen wir, wie in der einansichtigen Gruppenform Breite und Tiefe in einer merkwürdig unvermittelten Form nebeneinander wirken und, so möchte man vergleichsweise sagen, im Kampf um die Hauptwirkung mit einander begriffen sind; dabei verhält es sich natürlich so, daß je näher wir herantreten, desto stärker die in die Tiefe führenden Linien empfunden werden und desto mehr die reliefmäßige Wirkung der Gesamtkomposition aufgehoben wird, während beim Wachsen der Entfernung die Tiefenlinien zusammenschrumpfen, das Bewußtsein von der räumlichen Verschiedenheit der einzelnen Schichten immer mehr verloren geht, und das Ganze sich einer Art von Flächenbild annähert, einem Flächenbild, das uns auch die Photographie vermittelt. In allen diesen Punkten stimmt der Laokoon mit der Hermaphroditengruppe überein, von der E. Schmidt sagt (101): „All dies Verwirrende beruhigt sich, wenn wir zurücktreten, wenn der tastbar körperhafte Eindruck durch die Entfernung gemildert wird (ein Dienst den uns auch die Photographie in durchaus unerwünschter" (so?), Weise leistet), mit einem Wort, wenn sich der Anblick bildmäßig zusammenfaßt". Dieses schroffe Gegenüberstehen von Tiefen und Breitenlinien, die fast unvermittelt gegeneinander wirken und erst in der Entfernung einen Ausgleich erfahren, bringt als weitere Folge eine gewisse Zerrissenheit, eine „Durchlöcherung" der Gesamtgruppe mit sich,

eine Zerrissenheit, die auch erst im Fernbilde ihre kompositionelle Einigung findet, und mit der Hand in Hand die zackige Art des das Ganze umschließenden Konturs geht. Ein Blick auf den Laokoon und die Hermaphroditengruppe zeigt, daß beide auch hierin übereinstimmen 1). Beide Gruppen sind, wenn wir kurz ihre Haupteigenschaften zusammenfassend nennen sollen, durch die Einansichtigkeit, durch die Ausbreitung sehr tiefer Komplexe auf dem imaginären Grund und den Kontrast ihrer Tiefenlinien zu seiner Fläche charakterisiert.

Nun ist E. Schmidt der Ansicht, daß die Hermaphroditengruppe nicht ursprünglich für die Ausführung in Stein komponiert, sondern eine getreue Kopie nach einem Gemälde sei. Es ist vor allem die Einansichtigkeit der Gruppe, ihre bildmäßige Einigung in der Fernansicht, die ihn zu dieser Auffassung verleiten in dieser einzigen Ansicht sei alles wesentliche gesagt „aus keinem anderen Grunde, als weil der Maler, der sie erfand, in ihr allein alles zum Ausdruck bringen mußte." E. Schmidt empfindet also die Eigenart der Gruppe so stark als malerisch, daß hierin für ihn der Anlaß liegt, die Urerfindung einem Maler zuzuschreiben. Was aber für die Hermaphroditengruppe gilt, muß notwendigerweise auch auf den Laokoon angewendet werden. Sahen wir doch, daß beide Werke in ihrem kompositionellen Wesen durchaus übereinstimmen. Auch die Laokoongruppe müßte demnach aus einem Gemälde herauskopiert sein. Die Vermutung, daß die Lakoongruppe durch ein Gemälde angeregt sei, ist aber schon längst aufgetaucht (s. u. S. 89) und könnte immerhin als Stütze der eben versuchsweise im Sinne E. Schmidts aufgestellten Ansicht gelten, wenn man auch bisher noch nicht ernstlich dafür eingetreten ist, daß der Laokoon geradezu Zug um Zug nach einem Gemälde kopiert sei (vgl. auch Herrmann - Bruckmann Text zu Taf. 50). Sind nun wirklich beide Gruppen getreue Umsetzungen aus Bild in Stein? Angenommen es verhielte sich so, wären wir dann in der Erkenntnis der Entstehung dieser Gruppen besonders tief vorgedrungen? Wir müßten

1) Eduard Schmidt's Stellungnahme zum Laokoon (107) ist nicht ganz klar. Er sagt: „In Wahrheit hat der Laokoon zwar eine Hauptansicht, aber gerade bei ihm muß man den Standpunkt häufig wechseln, um des ganzen Reichtums an plastischer Form inne zu werden." Das gilt aber auch für den Hermaphroditen. Der plastische Eindruck wird nicht allein durch ein näheres Herantreten, sondern ebenso durch einen seitlichen Wechsel des Standortes erhöht. So wird in der Abbildung 4 zwar das „Rhythmisch - Sinnvolle", wie sich E. Schmidt ausdrückt, zerstört, dafür aber der plastische Eindruck gegenüber der eigentlichen Ansicht gewaltig erhöht (Abb. 3).

doch sofort fragen: warum halten sich die Künstler so sklavisch an ihr Vorbild? Und das geschieht nicht nur einmal, was schließlich als ein kurioser Einfall einer Kopistenseele verständlich wäre, sondern wir haben bereits zwei derartige Gruppen vor uns gehabt und ein anderes Beispiel werden wir weiter unten noch kennen lernen. Warum griffen die Künstler nicht allein das Motiv des Gemäldes auf und schufen im übrigen eine Gruppe, die man von allen oder von mehreren Seiten betrachten konnte? Die Annahme, mangelndes Können habe eine so enge Anlehnung an das gemalte Vorbild erzwungen, hilft uns nicht weiter. Mit Recht betont E Schmidt die Geschicklichkeit des Künstlers der Dresdner Gruppe. Auch muß sein Vorstellungsvermögen ganz außerordentlich gewesen sein, wenn es ihm ermöglichte, ein Gemälde plastisch umzudenken und zu kopieren, so daß als Resultat eine Gruppenform herauskam, die bisher in der Plastik unerhört war. Ja, war diese Form völlig neu und unerhört? Ist es nicht eine notwendige Folgerung, daß diese Künstler schon in einem bestimmten Verhältnis zu dem in dieser Gruppenform enthaltenen Kompositionsgedanken standen, einem Verhältnis das ihnen vielleicht erst das „Umdenken" von Bild in Stein ermöglichte? Es ist nicht damit geholfen, daß man annimmt, diese Kompositionsform sei in Anlehnung an ein Gemälde einmalig geschaffen und dann auch für frei erfundene Gruppen benutzt worden. Denn auch diese Annahme setzt voraus, daß die durch diesen Vorgang geschaffene Komposition nicht als ein Unikum empfunden wurde, sondern daß sie gewissermaßen auf fruchtbaren Boden fiel und irgendwie anders bereits vorbereitet war. Diese starke Hervorhebung der Tiefenlinien, die Ausbreitung der einzelnen Komplexe auf der Fläche des imaginären Grundes, der Kontrast, in dem sie zu ihm stehen, und die Einansichtigkeit der ganzen Komposition müssen also irgendwie in der künstlerischen Veranlagung der Zeit verankert sein. Mit der Kopie nach einem Gemälde ist nicht allzu viel erklärt, die Richtigkeit der These vorausgesetzt. Dieser einansichtige Gruppenbau muß ganz anders in seiner Entstehung bedingt gewesen sein, er könnte als solcher dann zur Kopie nach Gemälden gedrängt haben. Das wäre vielleicht möglich. Es handelt sich jetzt also um den Versuch, diesen Gruppenaufbau mit seinen in der Fläche ausgebreiteten Tiefenkomplexen aus der künstlerischen Veranlagung der späthellenistischen Zeit zu verstehen, der auch die Hermaphroditengruppe wegen ihrer nahen Verwandtschaft zum Laokoon angehören muß (zur Datierung: Klein, Rokoko 56; Röm. Mitt. 1923/4, 165).

Die Betrachtung der Laokoon- und Hermaphroditengruppe hat

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