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Der Ursprung des Motett's.

Vorläufige Bemerkungen

von

Wilhelm Meyer aus Speyer.

Vorgelegt am 14. April 1898.

Zu den dunkeln Gebieten der Musikgeschichte gehört der mehrstimmige Gesang des Mittelalters. Ein wichtiger Theil jener mehrstimmigen Gesänge waren die Motette. Das Merkmal eines Motett's ist der sogenannte Tenor: eine Stimme sang eine Melodie, welcher in den Handschriften einzelne Silben, Wörter oder kurze Phrasen (Go Ta Adiutorium Aedificabo Ad nutum Et gaudebit) untergeschrieben sind; gleichzeitig wurde entweder éin Liedtext von 1 oder von 2 oder von 3 Stimmen in 1 oder 2 oder 3 verschiedenen Melodieen gesungen, oder es wurden gleichzeitig zu jenem Tenor noch 2 oder 3 verschiedene Liedtexte von 2 oder 3 verschiedenen Stimmen und nach verschiedenen Melodieen gesungen, so daß also die verschiedenen Texte nur von je einer Stimme gesungen wurden. Von den verschiedenen Arten der mehrstimmigen Gesänge des Mittelalters ist das Motett am meisten erforscht (vgl. Coussemaker's L'Art harmonique aux XII et XIIIe siècles 1865), und dennoch ist in Wahrheit auch über das Motett unser Wissen noch sehr unsicher. Nicht einmal, woher der Tenor kommt und was er ist, steht fest, geschweige das Uebrige.

Bei der Untersuchung der Formen der lateinischen Dichtung des Mittelalters haben die lateinischen Motettentexte mir solche Schwierigkeiten bereitet, daß ich vor ihnen Halt machte und auf die Hilfe eines Andern hoffte (Ludus de Antichristo in Münchner Sitzungsber. 1882 S. 181). Jetzt hat die Bamberger Motettenhandschrift mich nicht nur zu den palaeographischen Untersuchungen veranlaßt, welche ich in der Abhandlung 'Die Buchstabenverbin

Kgl. Ges. d. W. Nachrichten. Philolog.-histor. Klasse 1898. Hft. 2.

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dungen der sogenannten gothischen Schrift' (Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften 1897) veröffentlicht habe, sondern sie hat mich gezwungen, die Aufgabe, deren Lösung ich von Andern gehofft hatte, selbst anzufassen. Die Mühen der Untersuchung waren für mich, der ich zwar gern singen höre, aber selbst von Musik Nichts verstehe, ungewöhnlich groß; doch glaube ich, die Aufgabe im Wesentlichen gelöst und den Ursprung und das Wesen des mittelalterlichen Motett's erkannt zu haben. Die Sachverständigen werden vielleicht von hier aus die umliegenden Gebiete der mittelalterlichen Musik besser erkennen können. Jedenfalls aber

werden neue Räume des Wunderbaues der mittelalterlichen Kunstformen erhellt und zwar gerade jene wichtigen, in welchen Sänger und Dichter gemeinsam unübertroffene Kunstwerke geschaffen haben.

Es scheint mir nützlich, zunächst ohne Besprechung der bisherigen Ansichten die Grundzüge meiner Ansichten schon jetzt zu veröffentlichen, mit dem Vorbehalt sie später im Einzelnen auszuführen, zuzusetzen oder wegzunehmen, und mit der Bitte, daß von Handschriften einschlägigen Inhalts, besonders von mehrstimmig componirten Antiphonen und ähnlichen liturgischen Stücken, mir Mittheilung gegeben werde.

Der Gottesdienst der byzantinischen Kirche im 9. und 10. Jahrhundert war sehr umfangreich und entfaltete eine überwältigende Pracht und Schönheit. Priesen die Himmelskörper und die unzähligen Engelschaaren bis herab zum Gethier dieser Erde laut den Ruhm Gottes, so fühlten auch die Menschen sich verpflichtet, nach besten Kräften mitzuthun. Dasselbe Streben erfaßte im 9. Jahrhundert die lateinische Kirche. Da die überlieferte lateinische Liturgie nur bescheidenen Raum bot, so ging in der lateinischen Kirche des Abendlandes, besonders Deutschlands, dann noch mehr Frankreichs, ein mächtiger Zug dahin, die gottesdienstlichen Formen zu erweitern und zu verschö

Schon in der griechischen Kirche spielten hiebei Dichtkunst und Gesang die Hauptrolle, ja diese kirchlichen Gesänge füllen, wie ich schon früher bemerkt habe, eine Lücke in unserer Kenntniß der byzantinischen Literatur: sie ersetzten den Byzantinern die lyrische Poesie.

Auch der lateinische Gottesdienst wurde hauptsächlich durch Zusätze des Gesanges und der Dichtkunst erweitert. Reichen Stoff für die Erkenntniß dieser Sache bietet Leon Gautier, Histoire de la poésie liturgique au moyen age, I 1886. Schon früh

könnten in Formen, von denen die berühmten Alten keine Ahnung gehabt hatten. Sie übten die neue Kunst mit frommer Freude, und dem Wagen in den Formen folgte bald auch das Wagen im Geiste. Dieser neue Wagemuth strömte bald nach Frankreich und erfüllte dort die Menschen mit Macht. Fortan bis ins 14. Jahrhundert wetteiferten Deutsche und Franzosen in der Pflege des Gesangs und der Dichtung. Die Völker aber, welche die Sequenzendichtung gering achteten, blieben Jahrhunderte lang in Musik und Dichtkunst zurück.

Die Franzosen hatten die Sequenzendichtung mit Begeisterung aufgenommen, ja bald dieselbe eifriger gepflegt als die Deutschen. Ihnen scheint auch der Ruhm zu gebühren, eine andere Erweiterung und Verschönerung des Gottesdienstes, den mehrstimmigen Gesang, erfunden und längere Zeit allein gepflegt und ausgebildet zu haben.

(Mehrstimmig componirte Antiphonen). In Frankreich und insbesondere in Paris ist im 12. Jahrhundert eine gröBere Zahl von kurzen kirchlichen Gesängen, ich nenne sie Antiphonen, mehrstimmig componirt worden. Zuerst wird meistens der Anfang des vorangehenden Satzes notirt, dann folgt der Gesang selbst und oft ist noch der Anfang des folgenden Gesanges beigegeben. Die Sammlung war so geordnet, daß die wenigen 4 stimmigen Compositionen zuerst standen, wie 'Viderunt omnes. Notum fecit dominus salutare suum. ante conspectum gentium revelavit. Viderunt omnes' oder 'Sederunt. Adiuva me domine deus meus. salvum me fac propter misericordiam. Sederunt'; dann folgten zahlreiche 3 stimmige Compositionen wie 'Alleluia. Dies sanctificatus illuxit nobis. venite gentes et adorate dominum, quia hodie descendit lux magna', oder 'Exiit sermo. Sed sic volo eum manere donec veniam'; endlich sehr zahlreiche 2 stimmige, wie 'Iudea et Ierusalem. Constantes estote. videbitis auxilium domini super vos. Gloria patri et filio et spiritui sancto' oder 'Descendit de celis. Tanquam sponsus dominus procedens de thalamo suo. Gloria patri et filio et spiritui sancto'.

Die seit alten Zeiten überlieferte Melodie dieser Antiphonen (die Unterstimme oder die erste Stimme möchte ich sie nennen) war ebenfalls schon in alter Zeit durch Coloraturen auf einzelnen Silben verschönert worden; vgl. besonders Paléographie musicale Band I und IV, in deren Einleitungen, besonders unter RéponsGraduels, diese Gesänge verzeichnet sind. Zu dieser alten Melodie fügten die Componisten des 12. Jahrhunderts zunächst eine 2. Stimme, oder eine 2. und eine 3. Stimme oder, freilich selten, eine

L. Et dixit qui sedebat in throno, V. in superna maiestatis arce: L. Ecce nova facio omnia.

V. Divina providentia

per sacra mysteria

sancti spiritus gratia
renovantur omnia.

In einer Handschrift des 13. Jahrhunderts lese ich eben: Pater noster: Audi domine hymnum et orationem. temet concinentium. Qui es in celis: In altissimis. super celorum. Sanctificetur: Glorificetur in nobis. ad te suspirantibus. Nomen tuum: Quoniam nomen tibi. novum quod os domini nominavit. Adveniat : Velociter. et prestolamur cernui. Regnum tuum: In quo assidue felices letantur. cum exultatione portantes. manipulos suos u. s. w. Oder Credo in deum: Confessione fundatus. Confessione uere fidei. Patrem omnipotentem: Celum terramque regentem. potenti virtute. Creatorem celi et terre: Qui solo sermone fecit omnia. Et in Iesum Christum: Quem prophete predicaverunt. agnum esse ventu

rum u. s. W.

Diese 'versiculi ante, inter vel post ecclesiasticos cantus appositi' und ähnliche Neuerungen beschäftigten die kühnen und kunstreichen Sänger und Dichter seit dem 9. Jahrhundert. Das Lob Gottes bei Tag und Nacht zu verkünden, war die höchste Aufgabe der Menschen; so wurden die Sänger außerordentlich geübt und Theorie wie Praxis des Gesanges und der Musik entwickelten sich rasch. Allen andern europäischen Orten ging in diesem kühnen, neuartigen Schaffen St. Gallen voran, dessen Ruf als Sänger- und Dichtersitz deßhalb bald Europa erfüllte. Dort hat Tutilo sehr früh, vielleicht als Erster den Tropi, den gesungenen Erweiterungen der Liturgie, besondern Eifer gewidmet, dort hat sein Freund Notker jene Neuerung geschaffen, welche nach meiner Ansicht nicht nur die Formen, sondern auch den Geist der mittelalterlichen Dichtung von Grund aus verändert und diese auf jene Wege geführt hat, auf denen sie die Höhen der Schönheit erreicht hat. Die Erweiterung Notker's bestand darin, daß er den langen und schwer zu behaltenden Coloraturen einzelner Silben des Alleluia Texte unterlegte, begeisterte Loblieder in hochrhetorischer Sprache zum Preis dessen, an dessen Fest die betreffende Melodie gesungen wurde. Diese Texte wurden den Coloraturen des Alleluia angeschmiegt, so daß jede Note eine Silbe erhielt. Jene Coloraturen aber waren frei musikalische Schöpfungen neuerer Zeiten; mit dem Alterthum und den altlateinischen Klassikern hatten sie Nichts zu thun. Hatte die ganze Bildung der Karolingerzeit an den alten lateinischen Vorbildern geklebt, so lernten jetzt die Dichter zunächst, daß sie schöne Lieder schaffen

könnten in Formen, von denen die berühmten Alten keine Ahnung gehabt hatten. Sie übten die neue Kunst mit frommer Freude, und dem Wagen in den Formen folgte bald auch das Wagen im Geiste. Dieser neue Wagemuth strömte bald nach Frankreich und erfüllte dort die Menschen mit Macht. Fortan bis ins 14. Jahrhundert wetteiferten Deutsche und Franzosen in der Pflege des Gesangs und der Dichtung. Die Völker aber, welche die Sequenzendichtung gering achteten, blieben Jahrhunderte lang in Musik und Dichtkunst zurück.

Die Franzosen hatten die Sequenzendichtung mit Begeisterung aufgenommen, ja bald dieselbe eifriger gepflegt als die Deutschen. Ihnen scheint auch der Ruhm zu gebühren, eine andere Erweiterung und Verschönerung des Gottesdienstes, den mehrstimmigen Gesang, erfunden und längere Zeit allein gepflegt und ausgebildet zu haben.

(Mehrstimmig componirte Antiphonen). In Frankreich und insbesondere in Paris ist im 12. Jahrhundert eine gröBere Zahl von kurzen kirchlichen Gesängen, ich nenne sie Antiphonen, mehrstimmig componirt worden. Zuerst wird meistens der Anfang des vorangehenden Satzes notirt, dann folgt der Gesang selbst und oft ist noch der Anfang des folgenden Gesanges beigegeben. Die Sammlung war so geordnet, daß die wenigen 4 stimmigen Compositionen zuerst standen, wie 'Viderunt omnes. Notum. fecit dominus salutare suum. ante conspectum gentium revelavit. Viderunt omnes' oder 'Sederunt. Adiuva me domine deus meus. salvum me fac propter misericordiam. Sederunt'; dann folgten zahlreiche 3 stimmige Compositionen wie 'Alleluia. Dies sanctificatus illuxit nobis. venite gentes et adorate dominum, quia hodie descendit lux magna', oder 'Exiit sermo. Sed sic volo eum manere donec veniam'; endlich sehr zahlreiche 2 stimmige, wie 'Iudea et Ierusalem. Constantes estote. videbitis auxilium domini super vos. Gloria patri et filio et spiritui sancto' oder 'Descendit de celis. Tanquam sponsus dominus procedens de thalamo suo. Gloria patri et filio et spiritui sancto'.

Die seit alten Zeiten überlieferte Melodie dieser Antiphonen (die Unterstimme oder die erste Stimme möchte ich sie nennen) war ebenfalls schon in alter Zeit durch Coloraturen auf einzelnen Silben verschönert worden; vgl. besonders Paléographie musicale Band I und IV, in deren Einleitungen, besonders unter RéponsGraduels, diese Gesänge verzeichnet sind. Zu dieser alten Melodie fügten die Componisten des 12. Jahrhunderts zunächst eine 2. Stimme, oder eine 2. und eine 3. Stimme oder, freilich selten, eine

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