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Welchen wert die erforschung der versmelodie hat, zeigt Sievers in seiner Leipziger rectoratsrede von 1901: Sprachmelodisches in der deutschen dichtung. Er untersucht hier die frage, wie und wie weit eine planmässige untersuchung der rhythmisch- melodischen formen der menschlichen rede in sprache und literatur auch ästhetischen und philologischen zwecken nutzbar gemacht werden kann, in wie weit sich aus der sprachmelodie neue anhaltspunkte für die textkritik gewinnen lassen.

Die sprachmelodie kennt nach Sievers nur ungefähr bestimmte tonlagen im gegensatz zur gesangsmelodie, und ihre tonschritte sind zwar meist der richtung nach (ob steigschritt oder fallschritt) festgegeben, aber die grösse der tonschritte kann nach den verschiedensten gesichtspunkten wechseln. Sievers untersucht sodann, woher die sprachmelodie stammt. Es kann zwar jeder in einen dichterischen text seine individuelle auffassung hineinlegen und demgemäss individuell melodisieren, dieselbe ist dann aber nicht ohne weiteres richtig, denn jedes stück dichtung besitzt eine ihm festanhaftende melodische eigenschaft. Jeder dichter ist bei dem acte poetischer conception und ausgestaltung von einer gewissen musikalischen d. h. rhythmisch-melodischen stimmung ergriffen, so, dass er dieser stimmung, dem innern drange folgend, selbst ohne dass er sich dieser musikalischen erregung in jedem fall bewusst zu werden braucht, ausdruck verleiht.

Der dichter muss bedacht nehmen auf den wohllaut seiner rede und kann diesen durch entsprechende wortwahl erreichen; diese löst beim leser wider bestimmte melodien aus. Da aber die dichtung fast immer nur in schriftlicher überlieferung auf uns kommt, so muss der leser sich zunächst in inhalt und stimmung der dichtung so versetzen, dass die melodie in ihm, wie einst in ihrem urheber wider lebendig wird. Der leser muss sich möglichst naiv und reflexionslos dem laut vorgelesenen texte hingeben. Sein vortrag muss den charakter einer unwillkürlichen reaction auf unbewusst empfangene eindrücke Rhythmik in Holz-Saran-Bernoulli: Die Jenaer liederhs. 1901. Bd. 2, s.91- 151; ders., Rhythmus des franz. verses. Halle 1904, s. 539-579; ders., Melodik und rhythmik der 'Zueignung' Goethes. Studien zur deutschen philologie, Festgabe. 1903, s. 171-174; ders., Deutsche verslehre 1907. Vorwort.

tragen (vgl. Saran, Melodik und rhythmik der 'Zueignung' Goethes s. 172). Erst häufig widerholte leseproben können

die richtige versmelodie ergeben.

Alle dichter wenden in jedem ihrer werke unwillkürlich eine ganz bestimmte versmelodie an, entweder in allen werken dieselbe bez. analog gebaute oder verschiedene. Sievers gibt an, dass der mhd. dichter mit wenig ausnahmen in der wahl seiner melodischen ausdrucksmittel durchaus stabil ist. Beim Annolied handelt es sich natürlich nur um eine vers- (richtiger: ketten-) melodie. Aus diesen tatsachen folgt, dass die versmelodie ein gutes mittel für richtige declamation, sodann für die textkritik ist. Denn 1. ein vers ist nur dann vollkommen richtig sinn- und stilgemäss vorgetragen, wenn beim vortrag die in der dichtung angewendete melodie klar und richtig gehört wird und 2. bei an sich richtigem lesen weisen störungen der versmelodie auf textverderbnisse hin. Diese art der textbehandlung soll hier auch für das Annolied nutzbar gemacht werden. Widerholte leseproben, die herr professor Saran mit meinen bekannten und mir abhielt, sodann leseproben zwischen herrn professor Saran und herrn professor Sievers in Leipzig ergaben für die kette (= reimpaar) folgende sprachmelodische kurve:

X

Die senkungssilben folgen, wie oben durch angedeutet ist, i. a. der richtung der tonbewegung der hebungen. Nur bei metrischer drückung treten sie gelegentlich heraus. Das schema der vorderreihe entspricht genau der kurve, die Saran für die versmelodie des altdeutschen reimverses (9.-12. jahrh.) gefunden hat: die erste hebung liegt höher als die eingangssenkung, die zweite hebung sinkt nur wenig, die dritte beträchtlich mit relativ grossem intervall nach der tiefe, die vierte hebung steigt wider ein wenig in die höhe, bei satzschlüssen ist der aufstieg ganz gering.) In der hinterreihe liegt die eingangs

1) Saran, Deutsche verslehre, s. 245; vgl. auch Brendel, Der Borte, s. 29 anm,

senkung höher als die erste hebung, diese aber liegt etwas tiefer als die vierte hebung in der vorderreihe. Die zweite hebung der hinterreihe sinkt nur wenig, die dritte tief herab, während die vierte wider in verschiedenen graden aufsteigt.

III. Der text.

Als text liegt der untersuchung die ausgabe des Annoliedes von J. Kehrein, Frankfurt a. M. 1865 zu grunde. Diese ist ein genauer abdruck des Opitzischen textes von 1639; auch die interpunction ist gewahrt, die versabschnitte sind genau inne gehalten. Die verse 25 b, c, d hat Kehrein wider aufgenommen; sie finden sich bei Bonaventura Vulcanius, der im Anhang (s. 43-109) einer kleinen schrift eines unbekannten autors (De litteris et lingua Getarum sive Gothorum 1597) vers 19-77 mitteilt (s. 61 ff.). Bei Opitz fehlen diese drei verse, vgl. C. Kraus, Zs. f. d. österr. gymn. 47, 230 ff.1)

Aus den leseproben, die herr professor Saran mit mir abhielt, ergab sich ihm, dass die formen des moselfränkischen dialektes dem versklang und der versmelodie allein gerecht würden und es ist daher anzunehmen, dass der ursprüngliche dialekt des gedichtes moselfränkisch gewesen sei. Dialektformen, die auch moselfränkisch sind, zeigen sich schon im text des gedichtes an verschiedenen stellen; sie gehören nach ausweis der melodie und des klanges dem original:

Wie Sievers in seiner schrift über die Oxforder benedictinerregel (OBR.) Tübingen 1887, s. XXI angibt, ist im moselfränkischen kurzes i in offener silbe vor einfachem stimmhaftem consonanten in e ausgewichen: emi 52, ere 756.

In der gruppe rht fehlt das r: irvohtime 422 (OBR. 1x).

Eintreten des g für h (OBR. xI) zeigt sich in sagin 423. 845, sege 707. Für findet sich inlautend vielfach v (OBR. XII). selve 8, love 104, aver 322, gravi 552, umbigravin 690, blivin 743; p im anlaut ist nicht verschoben (OBR. x11) in den formen pellin 476, paffen 838.

Verschiebung fehlt in: dad 488. 728. 744. 817, wad 820,
Für d steht dd (OBR. xv, zeile 3) in sidde 466, 471, 604,

swad 708.

siddi 335,

Die von
Kehrein

1) Roedigers verszahlen sind von Kehreins verschieden. Kehrein mit 25 a. 25 b bezeichneten heissen bei Roediger 25. 26. v. 25 entspricht Roediger v. 29 u. s. w. Kehrein v. 211 und v. 212 sind bei Roediger zu v. 215, Kehrein v. 213 und v. 214 sind bei Roediger zu v. 216 zusammengezogen.

596, gebeddes 704. Im anlaut ist d nicht verschoben in sehr vielen fällen: z. b. dun 755, dut 774 u. s. w.

Das inlautende d erscheint teils verschoben, teils unverschoben z. b, neben der form alten 2. 150. 346 u. s. w. erscheint die form aldin 120, neben aribeiti 135 die form arebeiden 91, neben güte 872 die form güde 78. 290, güdin 297. Nicht verschobenes d haben blüde 89, gemüde 90.

Verschiebung ist eingetreten in den formen Gotis 641, goteliche 700, Gote 836, unverschobenes d dagegen zeigt sich in den formen: Gode 94. 253. 288. 610, Godis 521. 560. 771. 812. 850. 872, Godi 564. 791.

In ca. 59 fällen ist die verschiebung des Id>lt eingetreten, in ca. 22 fällen ist ld unverschoben.

Der unterschied zwischen dem südlichen mittelfränkischen d.h. dem moselfränkischen und dem nördlichen mittelfränkischen, dem ripuarischen, besteht darin, wie John Meier, Bruder Hermanns leben der gräfin Jolande von Vianden s. vII angibt, dass sich im ripuarischen urgerm. ro nicht wie im moselfränkischen zu rt verschiebt, sondern zu rd wird, während sich dagegen in beiden dialekten germ. rþ zu rd verschiebt. Wie Sievers s. XVI bemerkt, ist diese verschiebung schon 1868 von Rieger für die Elisabeth erkannt und angedeutet, trotzdem findet sich sonst keine bemerkung darüber ausser bei A. Wyss, Limburger chronik 1883, s. 19. Auch Sievers hält die verschiebung rd>rt (ausser in schwach nebentonigen silben) für das gemeinsame merkmal aller 'chattischen' mundarten im gegensatz zu den ripuarischen, die rd beibehalten (s. XVI unten).

Die verschiebung von rd >rt zeigt sich im texte öfter: virkertin 55, vürter 59, leirti 135, lertin 563, worte (genet.) 597, vurtin 678, heriverte 683, bikerte 689, antwurte 779, vürtin 839, harti 222. 668. 709. 743. 845.

Diese formen mit rt kommen an allen stellen des originals vor. Der durchschlagende beweis für das dasein dieser verschiebung und im zusammenhang mit den oben erwähnten formen und den unten erwähnten reimen überhaupt für moselfränkischen dialekt ist die versmelodie; diese erweist, und zwar in allen fraglichen fällen, rt. z. b. die schreibung vurder in v. 59 (So virter cir hellin) würde die melodiekurve stören, da die media die erste hebung zu tief herabdrückt. Die schwachen präterita haben nach ausweis der melodie sonst teils d, teils t. Nach -n steht stets d, in den anderen fällen scheint der dichter zu schwanken.

Auch die reime des Annoliedes dürfen von diesem ge

sichtspunkt aus zur feststellung des urspr. dialektes nicht unberücksichtigt bleiben, doch darf dies nur mit vorsicht geschehen, da die reime des dichters nicht überall eigentum des dichters sein müssen, sondern literarischer überlieferung entnommen sein können, s. oben s. 9, anm. 1.

Wenn auch nicht immer specifisch moselfränkischer, so doch mittelfränkischer dialekt ergibt sich aus folgenden bindungen, die scheinbar nicht reimen:

:

61: sun sunden, lies son: sundon. 117: bekennin: aneginne spricht für sehr offenesi (vgl. Busch, Zs. fdph. 10, 187), desgleichen 277: ci gedinge : brengin (vgl. Meier, Jolande XXIX, z. 5 ff.), desgleichen 837: rennin : gewinnin. 345: nahin : magin, dafür nagen : magen (OBR. 1x). 405: irkunnit : gut, lies erkunnot: got (vgl. Busch a. a. o. s. 285; Wilmanns, Anz. fda. 23, 352). 577: anesin plegin, lies anesegen plegen.

Dialektische fragen können hier im allgemeinen unerörtert bleiben, da es sich für uns nur um änderungen handelt, durch die sich die silbenzahl im verse und damit das metrum verschiebt. Nur hier und da sind in dem folgenden verzeichnis der textbesserungen rein dialektische änderungen, durch die die silbenzahl nicht geändert wird, im interesse bequemeren lesens eingefügt. Mir persönlich ist aber sicher, dass die ursprünglichen formen vel, dad, hemel, wolde, is (= ist) u. s. w. gelautet haben, da sie allein der melodiekurve und dem unverkennbar vollen. und weichen sprachklang der dichtung gerecht werden. Die formen des textes stören sehr oft. Folgende verse mussten, weil sie falsche versmelodie haben und auch sonst aus der schallform herausfallen, gestrichen werden: 25 c (Siev.), 25 d (Siev.), 111 (Siev.), 112 (Siev.), 113 (Siev.), 114 (Siev.), 483 (Eb.), 484 (Eb.), 657 (Siev.), 658 (Siev.), 751 (Siev.), 752 (Siev.), 769 (Siev.), 770 (Siev.), 859 (Siev.), 860 (Siev.). Auch der inhalt kennzeichnet sie meist als zusätze. Vers 540 ist nur zur hälfte überliefert. Mit dritti bricht der vers ab, geinti uffin leige ist der übrig gebliebene schluss eines folgenden verses (Sievers).

Die folgenden durch die obigen ausführungen bedingten. textbesserungen stammen meist von Sievers und sind unbezeichnet. Die von Roediger, Saran und mir gefundenen sind, wo sie von belang sind, mit Roe., Sa., Eb. bezeichnet.1)

1) Textänderungen, die keinen einfluss auf das metrische schema haben, sind durch ein * kenntlich gemacht.

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